Kritische Lage in Afghanistan Taliban bereiten Angriff auf nächsten Ex-Bundeswehrstandort vor
Die Lage in Afghanistan spitzt sich zu: Die Taliban erobern immer mehr Provinzhauptstädte. Ein weiterer ehemaliger Bundeswehr-Standort rückt in den Fokus. Und die Verteidigungsministerin stellt sich gegen Rufe nach einem neuen Einsatz.
Trotz des alarmierenden Vormarsches der militant-islamistischen Taliban hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan verteidigt. Die Bundeswehr habe während ihres fast 20-jährigen Einsatzes alle Aufträge erfüllt, die ihr der Bundestag gegeben habe, erklärte sie am Montag. Auf die Forderung nach einem erneuten militärischen Eingreifen reagierte sie mit den Worten: "Wer die Taliban dauerhaft besiegen will, müsste einen sehr harten und langen Kampfeinsatz führen." Die CDU-Politikerin stellte in Frage, ob Parlament und Gesellschaft in Deutschland dazu bereit seien.
Mit Aibak in der Provinz Samangan im Norden Afghanistans fiel unterdessen die mittlerweile sechste Provinzhauptstadt an die Islamisten. Am Wochenende hatten sie bereits Kundus unter ihre Kontrolle gebracht, wo die Bundeswehr jahrelang einen verlustreichen Kampf gegen die Taliban geführt hat.
Kramp-Karrenbauer: Meldungen "tun sehr weh"
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, hatte daraufhin einen neuen Militäreinsatz ins Spiel gebracht. In einem Interview der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" appellierte der CDU-Politiker an die internationale Gemeinschaft, den Vormarsch der Taliban zu stoppen – gegebenenfalls unter Beteiligung der Bundeswehr.
Kramp-Karrenbauer sagte dazu: "Sind Gesellschaft und Parlament dazu bereit, die Bundeswehr in einen Krieg zu schicken und mindestens eine weitere Generation lang mit vielen Truppen dort zu bleiben? Wenn wir das nicht sind, dann bleibt der gemeinsame Abzug mit den Partnern die richtige Entscheidung." Die Meldungen aus Kundus und ganz Afghanistan seien aber "bitter und tun sehr weh". Die Taliban hätten ihrer Ansicht nach aber auch zugeschlagen, wenn die Bundeswehr noch im Lande wäre.
Sicherheitskräfte sind geflüchtet
Die Taliban setzen ihre Militäroffensive am Montag fort. Nach der Eroberung von Aibak, sagte die Provinzrätin Machboba Rahmat, Sicherheitskräfte hätten die Stadt mit ihren geschätzt 120.000 Einwohnern einfach verlassen. Davor hätten sie das Verteidigungsministerium vergeblich um Luftangriffe gebeten. "Sie dachten, wenn die Regierung ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt, werden sie ihr Leben nicht für die Regierung riskieren", so Rahmat. Die Sicherheitskräfte seien auf eine Anhöhe am Rande der Stadt geflohen.
Damit haben die Islamisten binnen vier Tagen sechs Provinzhauptstädte, der Großteil davon im Norden des Landes, eingenommen. In Kundus besetzten sie am Montag einem Provinzrat zufolge weitere Regierungseinrichtungen wie das Büro des Generalstaatsanwaltes oder das Menschenrechtsbüro. Zivilisten seien im Zuge der Gefechte getötet und verwundet worden, allerdings gebe es noch keine genauen Zahlen.
Taliban bereiten Angriff auf Masar-i-Scharif vor
Auch Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, ist ein klares Ziel der Islamisten. Bereits am Montag starteten sie eine Propagandakampagne gegen die Stadt und behaupteten in sozialen Medien, sie bereits von vier Seiten anzugreifen. Das stimmt allerdings nicht. Kämpfe gab es nur rund 20 Kilometer außerhalb. Es werden wohl nun Kämpfer, die Kundus und andere Städte im Norden erobert haben, für einen Angriff zusammengezogen werden. Ein Erfolg oder Misserfolg dürfte wie in anderen Städten auch von der Moral der Sicherheitskräfte abhängen.
Angesichts steigender Opferzahlen in Afghanistan rief UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths zum Schutz der Zivilbevölkerung auf. Allein im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden, berichtete er am Montag. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef zeigte sich am Montag schockiert angesichts täglich steigender Gräueltaten in dem Konflikt. Binnen 72 Stunden seien in drei Provinzen des Landes 27 Kinder getötet und 136 verwundet worden.
Auch die Zahl der Binnenflüchtlinge steigt seit Anfang Mai massiv. Bis Ende Juli verließen annähernd eine Viertelmillion Menschen in dem Land ihre Dörfer und Städte. Laut Daten der UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) sind es mehr als 244.000 Menschen vor Gefechten geflohen – mehr als vier Mal so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs.
- Nachrichtenagentur dpa