"Prinzipien achten" USA appellieren an tunesischen Präsidenten
Die Lage in Tunesien bleibt nach der Entmachtung der Regierung angespannt. Auch international zeigen sich viele Beobachter besorgt. US-Außenminister Blinken richtete einen dringenden Appell an Präsident Saïed.
Nach der Entmachtung der tunesischen Regierung durch Präsident Kaïs Saïed wächst international die Sorge um die Demokratie in dem nordafrikanischen Land. US-Außenminister Antony Blinken forderte Saïed am Montag in einem Telefonat auf, die "Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte" zu achten. Es müsse einen "offenen Dialog mit allen politischen Akteuren" in Tunesien geben. Der entlassene Regierungschef Hichem Mechichi kündigte an, die Amtsgeschäfte an einen von Saïed bestimmten Nachfolger zu übergeben.
Saïed hatte am Sonntagabend überraschend die Entlassung Mechichis sowie die vorläufige Aussetzung Arbeit des Parlaments verkündet und erklärt, er werde die Regierungsgeschäfte mit Hilfe eines neuen Regierungschefs übernehmen.
Saïed: Entmachtung der Regierung verfassungskonform
Der Präsident kündigte zudem die Aufhebung der Immunität aller Abgeordneten an. Am Montag entließ er Verteidigungsminister Ibrahim Bartaji und die Interims-Justizministerin Hasna Ben Slimane. Vorausgegangen waren den Entlassungen Proteste gegen das Corona-Krisenmanagement der Regierung in mehreren tunesischen Städten.
Während Saïed betonte, sein Handeln stehe im Einklang mit der Verfassung, warf ihm die islamistisch geprägte Regierungspartei Ennahdha einen "Putsch" vor. Am Montag lieferten sich Anhänger beider politischer Seiten in Tunis Straßenkämpfe. Am Abend verkündete das Präsidialamt dann eine Ausweitung der bestehenden nächtlichen Ausgangssperre um zwei Stunden. Zudem wurden Versammlungen mit mehr als drei Teilnehmern verboten.
Internationale Sorge wächst
International löste die politische Krise in Tunesien Besorgnis aus. Das Auswärtige Amt in Berlin forderte eine schnelle Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung in dem Land. Die von Staatschef Saïed verkündete Aussetzung der Arbeit des Parlaments sei aus Sicht der Bundesregierung eine "recht weite Auslegung der Verfassung", sagte eine Sprecherin.
Auch Frankreich mahnte eine rasche Rückkehr zur "normalen" Regierungsführung an. Die EU rief die Menschen in Tunesien dazu auf, friedlich zu bleiben.
Die US-Regierung betonte, dass "Tunesien seine demokratischen Erfolge nicht verschleudern" dürfe. US-Präsidentensprecherin Jen Psaki sagte, es sei zu früh, um zu sagen, ob Saïed einen Putsch unternommen habe. Das US-Außenministerium werde dies analysieren. Washington muss einem US-Gesetz zufolge Hilfen für Regierungen einstellen, die durch den Sturz einer gewählten Regierung an die Macht gekommen sind.
Kritik an Schließung von Al-Jazeera
Journalistenverbände und Menschenrechtsorganisationen prangerten die Schließung der Büros des katarischen Fernsehsenders Al-Jazeera in Tunis an. Beamte hätten sich Zugang verschafft "und haben uns aufgefordert, das Büro zu verlassen", sagte Büroleiter Lotfi Hajji der Nachrichtenagentur AFP, der in dem Vorgehen einen "Beweis" dafür sah, "dass die Pressefreiheit in Gefahr ist". Auch Reporter ohne Grenzen und Amnesty International verurteilten die Büro-Schließung.
In Tunis äußerte sich unterdessen erstmals seit seiner Entlassung Ex-Regierungschef Mechichi. "Ich werde die Machtübergabe an die vom Präsidenten der Republik ernannte Persönlichkeit sicherstellen", erklärte er.
Tunesien lange Musterland des Arabischen Frühlings
Die tunesische Politik war in den vergangenen Monaten von einem Machtkampf zwischen Mechichi und dem Parlamentspräsidenten und Ennahdha-Vorsitzenden Rached Ghannouchi auf der einen sowie Präsident Saïed auf der anderen Seite bestimmt worden. Für zusätzlichen Unmut in der Bevölkerung sorgte die von der Corona-Pandemie verschärfte Wirtschaftskrise. In dem Land mit zwölf Millionen Einwohnern starben mehr als 18.000 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19. Zuletzt stiegen die Corona-Fallzahlen wieder rasant an.
Tunesien galt lange als Musterland des Arabischen Frühlings, der 2011 die Herrschaft von Langzeitmachthaber Zine El Abidine Ben Ali beendet hatte. Allerdings hat es seither in zehn Jahren neun verschiedene Regierungen gegeben. Manche hielten nur wenige Monate, was die dringend nötigen Reformen in Wirtschaft und Verwaltung de facto unmöglich machte.
- Nachrichtenagentur AFP