Unruhen in Israel Experte warnt vor dauerhafter Spaltung der Gesellschaft
Lange haben jüdische Israelis und die arabisch-palästinensische Minderheit Seite an Seite gelebt. Mit der neuen Eskalation des Nahostkonflikts könnte sich das anhaltend ändern, warnt ein Experte.
Angesichts der gewaltsamen Ausschreitungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis warnt der Nahost-Experte Steffen Hagemann vor einer dauerhaften Spaltung der israelischen Gesellschaft. "Die Gefahr ist groß, dass die Gewalt Brücken zerstört und das Zusammenleben jüdischer Israelis und der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel weit zurückwirft", sagte der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Die "neue Dimension der Gewalt" könne zu einer weiteren Entfremdung und Radikalisierung der arabischen Israelis zur Mehrheitsgesellschaft führen.
Dass es bei Demonstrationen zu massiver Gewalt komme, Geschäfte angegriffen und eine Synagoge in Brand gesteckt worden sei, habe in Israel Sorgen vor einer Ausweitung der Gewalt geschürt. "Ein Kolumnist von Israels größter Tageszeitung hat heute die Gefahr des ehemaligen Jugoslawiens benannt und gesagt: Auch dort haben verschiedene Bevölkerungsgruppen lange zusammengelebt und auch dort ließ sich die Eskalation in einen gewaltsamen Bürgerkrieg nicht mehr aufhalten", sagte Hagemann. "Diese Gefahr wird von vielen tatsächlich gesehen."
Zudem wecke die Gewalt Erinnerungen an große Demonstrationen arabisch-palästinensischer Israelis während der zweiten Intifada im Jahr 2000, bei denen 13 Menschen getötet worden seien, sagte Hagemann. "Das hat damals zu viel Enttäuschung und Entfremdung der arabischen zur Mehrheitsgesellschaft geführt." Es sei schwierig, "diese Gewalt dann wieder einzudämmen". Es gebe aber auch Stimmen, "die versuchen, dem jetzt etwas entgegenzusetzen", etwa arabische Parlamentsabgeordnete oder zivilgesellschaftliche Initiativen.
Hagemann: "Das hat zu großer Enttäuschung geführt"
Die arabischen Israelis machen etwa 20 Prozent der Bevölkerung Israels aus. Viele von ihnen sehen sich laut Hagemann sowohl als Palästinenser als auch als Israelis.
"Wir sehen zwei Trends in den letzten Jahren. Einerseits konzentrieren sich viele arabisch-palästinensische Israelis auf die Verbesserung ihrer eigenen Lebensverhältnisse und wirkliche Beteiligung am politischen Prozess in Israel", sagte der Experte. Das sei auch darin deutlich geworden, dass die arabischen Parteien nach der vorletzten Wahl mit Benny Gantz erstmals seit 1992 einen jüdischen Kandidaten nominiert haben, um die Regierung zu bilden.
Wenn aber dieses Angebot der arabischen Minderheit zur Teilhabe an der israelischen Politik und Gesellschaft abgelehnt werde, könne dies zur Radikalisierung beitragen, warnte Hagemann. "Das haben wir gesehen, nachdem Benny Gantz die Möglichkeit, eine Regierung mit der Vereinigen Arabischen Liste zu bilden, ausgeschlagen hat und der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beigetreten ist. Das hat zu großer Enttäuschung geführt."
Rassismus unter Netanjahus Regierung
Die Eskalation der Gewalt innerhalb der israelischen Gesellschaft ist laut Hagemann das Ergebnis langjähriger Prozesse. In vielen mehrheitlich arabisch bewohnten Städten habe die organisierte Kriminalität stark zugenommen, auch weil die israelische Polizei sich bei ihrer Arbeit auf jüdische Gebiete konzentriere. Zudem sei die Zahl der Schusswaffen und das generelle Gewaltniveau dort gestiegen. "Hinzu kommt, dass wir in Israel quasi seit Staatsgründung eine strukturelle Diskriminierung der arabischen Bevölkerung und Rassismus sehen", sagte Hagemann.
"Wir haben unter Netanjahu immer wieder einen rassistischen Diskurs gesehen, dass er die arabisch-palästinensische Bevölkerung nicht als gleichberechtigte Bürger anerkennt", so der Experte. Zudem sei eine radikale und antidemokratische jüdische Partei mit Unterstützung Netanjahus in die Knesset eingezogen, deren Anhänger nun eine wesentliche Rolle bei den Gewalttaten spielen.
Bislang würden in den laufenden Verhandlungen um die Regierungsbildung alle Parteien der Anti-Netanjahu-Koalition weiter zum Ziel der Ablösung von Israels langjährigem Regierungschef stehen. "Je länger diese Gewalt aber dauert und je länger auch der Konflikt mit der Hamas dauert, desto schwieriger wird das", warnte Hagemann.
- Nachrichtenagentur AFP