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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neuer Flüchtlings-Hotspot Auf Lampedusa landen die Boote im Stundentakt
Während die Welt auf Moria schaut, kommen Flüchtlinge in diesen Wochen vor allem in Lampedusa an. Das Aufnahmelager der Insel ist um ein Vielfaches überbelegt. Droht in Süditalien jetzt der Kollaps?
Lampedusas Bürgermeister Totò Martello hatte mal wieder die Nase voll. Er werde sich ins Boot nach Tunesien setzen, um es den Behörden dort begreiflich zu machen: Tunesiens Küstenwache solle doch bitteschön dringend besser kontrollieren und die Boote stoppen.
Grund für Martellos Ausbruch: Lampedusa ist wieder zum ersten Anlaufpunkt für Menschen geworden, die vor Verfolgung fliehen oder in Europa ein besseres Leben suchen. Und an manchen Tagen ist jeder Zweite, der mit einem Boot die Küste erreicht, ein Tunesier.
Nach Martellos Ankündigung Ende August hat sich die Situation nicht entspannt. Am Freitag verzeichnete Italien einen neuen Rekord für dieses Jahr: 678 Ankömmlinge an Italiens Küsten, vor allem in Lampedusa. Auf den griechischen Ägäis-Inseln, wo das Elend der Menschen in Moria auf Lesbos in den Blickpunkt gerückt ist, wurden zu dem Zeitpunkt 366 gemeldet – allerdings in einem ganzen Monat. Im Vergleichszeitraum 2019 waren es dort noch 10.000.
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In diesem Jahr haben sich die Verhältnisse auf dem Mittelmeer also umgekehrt: Auf der Seeroute nach Griechenland ist es ruhig geworden, auch in Spanien kommen weniger Menschen an. Die Flüchtlingsboote steuern dafür wieder stärker im zentralen Mittelmeer Richtung Europa. Sie erreichen Europa meist in Lampedusa, nur 140 Kilometer vom afrikanischen Kontinent entfernt.
In Italien hat sich die Zahl der Bootsflüchtlinge gegenüber 2019 verdreifacht. Gut 22.000 waren es bis zum 20. September, 19.000 davon auf Lampedusa und Sizilien. 2019 waren es italienweit bis zum 20. September 6.800, im Gesamtjahr dann 11.471. Seit dem arabischen Frühling 2011 mit Zehntausenden Menschen ist Lampedusa permanent ein Flüchtlings-Hotspot, aber die Situation hatte sich zwischenzeitlich deutlich entspannt. Die Zahlen sind auch entfernt vom Niveau früherer Jahre.
1.200 Menschen im Lager für 192
Trotzdem sorgt die Verlagerung der Fluchtrouten für logistische Probleme: Das Aufnahmelager der Insel hat eigentlich nur 192 Plätze. Rund 1.200 Menschen waren dort am Montag zusammengepfercht, bewacht vom Militär. Die Präfektur ordnete da wieder einmal die Evakuierung von 330 Personen per Schiff nach Sizilien an. Von dort sind in diesem Jahr rund 4.000 Migranten auf andere Teile Italiens verteilt worden.
Doch Lampedusa ist das Nadelöhr. Darauf weist immer wieder der als gemäßigt geltende Bürgermeister Martello hin. Er erregte in den vergangenen Wochen schon mehrfach mit Hilferufen Aufmerksamkeit: Im Juli hatte er gedroht, den Ausnahmezustand auszurufen. Ende August kündigte er einen Generalstreik der knapp 7.000 Einwohner an, wenn die Insel nicht weiter entlastet wird. Die Regierung aus Rom schickte dann zu zwei gecharterten Schiffen als schwimmende Auffanglager und Quarantänestationen noch drei weitere.
26 Boote in 24 Stunden
Das Lager ist seit Wochen überfüllt, und es kommen ständig Menschen nach, wenn das Meer nicht zu unruhig ist. Am Sonntag wurden in Lampedusa in 24 Stunden 26 ankommende Boote und Schiffe gezählt. "Hat jemand geglaubt, die Landungen wären vorbei?", sagte deshalb Martello zu "La Sicilia". Es gebe nur einen Weg: "Versuchen Sie, die Menschen nicht starten zu lassen."
Einige Stunden vor dem Appell des Bürgermeisters hatte das tunesische Innenministerium seinen Tätigkeitsnachweis abgeliefert: In der Nacht zum Sonntag seien 19 Überfahrten verhindert und 246 Passagiere gestoppt worden. 217 von ihnen waren Tunesier. Fast jeden Tag meldet das Innenministerium abgefangene Boote.
Der Druck aus Italien ist groß auf Tunesien. Italiens parteilose Innenministerin Luciana Lamorgese war Ende Juli hingeflogen, noch vor der Ankündigung von Bürgermeister Martello, mit dem Boot zu kommen. Die Migration von Tunesien sei "völlig unkontrolliert", kritisierte sie da. Sie traf auch eine Vereinbarung, um Rückführungen zu beschleunigen: Zwei Maschinen pro Woche mit insgesamt 80 Menschen, ab Oktober sollen es vier Flugzeuge in der Woche sein.
41 Prozent der Ankommenden sind Tunesier
Sie sollen vor allem ein Signal sein, dass sich die Fahrt nach Italien nicht lohnt. Mehr als 41 Prozent der Ankömmlinge in Italien in diesem Jahr sind Tunesier, die Perspektivlosigkeit treibt viele an. Die zweitgrößte Gruppe sind Menschen aus Bangladesch (16 Prozent) und Côte d'Ivoire (5 Prozent). 77 Prozent der Ankömmlinge sind Männer, nur sechs Prozent Frauen.
Von 62 Kindern an Bord berichtete dagegen die Hilfsorganisation "Sea Eye", als ihr Schiff "Alan Kurdi" am Wochenende 133 Menschen aus Seenot rettete. Am Rettungsschiff vorbei fuhren seither etliche Flüchtlingsschiffe nach Lampedusa. Die "Alan Kurdi" darf es nicht: Wann und wo die Menschen an Land gehen können, ist unklar, und die Maritimen Rettungsleitstellen halten sich für nicht zuständig oder reagieren nicht, wie Sea-Eye-Vorsitzender Gordon Isler erklärt. Der Flüchtlingsdruck hat Auswirkungen auf die Rettungsmissionen im Mittelmeer.
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Isler sagt: "Die italienischen Behörden unterstützen zivile Seenotretter nur noch sehr zögerlich und halten unsere Schiffe lieber über Wochen in ihren Häfen fest."
Zugleich sind in diesem Teil des Mittelmeers in diesem Jahr 379 Menschen bestätigt ums Leben gekommen, wie das Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration notiert. Wie viele im Meer versinken, ohne dass jemand Notiz nimmt, weiß niemand.
- Eigene Recherchen
- UNHCR: Aegean Islands Weekly Snapshot (PDF)
- UNHCR: Italy Weekly Snapshot 20 September 2020
- UNHCR: Most common nationalities of sea arrivals (Italy)
- RAI: Lampedusa verzeichnet Rekord von 26 Booten in 24 Stunden
- La Sicilia: Lampedusa ist "erschöpft": weitere 18 Ankünfte in 16 Stunden
- Tunesisches Innenministerium: Pressemitteilung zur Festnahme von 246 Migranten (Arabisch)
- Facebook-Posting Toto Martello (Italienisch)
- Domradio: Bürgermeister droht mit Generalstreik
- Sea-Eye: 62 Kinder gerettet
- Missing Migrants: Tote im Mittelmeer
- Zeit: Geflüchtet aus Tunesien