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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Er erzürnt den Westen Jetzt wird Erdoğan zum Problem
Nato-Streit, Unterstützung für die Terrororganisation Hamas und nun lässt die Türkei britische Schiffe für die Ukraine nicht passieren. Recep Tayyip Erdoğan wird für den Westen immer mehr zum Problem.
Es herrscht große Wut, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft. Etwas in der Türkei ist im Umbruch. Das wurde zuletzt beim Jahreswechsel in vielen türkischen Städten deutlich.
In der letzten Dezemberwoche kamen bei einem Militäreinsatz gegen kurdische Milizen im Nordirak offenbar mindestens zwölf türkische Soldaten ums Leben. Daraufhin wurden viele Neujahrsfeiern in der Türkei abgesagt. Stattdessen protestierten am Neujahrstag Tausende gegen Israel. Die Demonstranten riefen "Mörder Israel, raus aus Palästina" und "Allahu Akbar" (Gott ist groß) und warfen der israelischen Regierung "Terrorismus" vor. Dabei trugen viele Hamas-Stirnbänder, schwenkten Fahnen der Türkei, Palästinas und des osmanischen Kalifats. Für den Westen sind das Warnsignale.
Für die Nato wird die Türkei unter ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zunehmend zu einem Problem, das sich nicht mehr ignorieren lässt. Der 69-Jährige blockiert weiterhin den Nato-Betritt Schwedens und lässt britische Minenräumboote für die Ukraine nicht den Bosporus passieren. Aber damit nicht genug: Er hetzt gegen Israel und den Westen. Zuletzt verglich er Ende Dezember den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mit Adolf Hitler. Ein neuer Tiefpunkt.
Erdoğans Zorn über fehlende westliche Zugeständnisse gegenüber der Türkei sorgen dafür, dass er sich in Richtung Osten orientiert. Und damit stellt er die restliche Nato und ihre Verbündeten vor große Schwierigkeiten.
Zorn und verbale Eskalation
Die verbalen Provokationen aus der Türkei nehmen zu, auch gegenüber Deutschland. "Wir haben Israels Nazilager in Stadien gesehen, nicht wahr? Was ist das? Wie unterscheidet ihr euch von Hitler?", sagte Erdoğan am 27. Dezember in Ankara in Bezug auf den Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen. "Deutschland zahlt auch heute noch den Preis für das, was Hitler getan hat. Deshalb schweigt Deutschland, es hat seinen Kopf gesenkt."
"Wir haben Israels Nazilager in Stadien gesehen, nicht wahr? Was ist das? Wie unterscheidet ihr euch von Hitler?"
Recep Tayyip Erdoğan
Was er damit genau meint, erklärte er nicht. Hitler hat den Zweiten Weltkrieg begonnen und Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Israel führt einen Krieg als Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober. Während Erdoğan dem Westen in dem Konflikt Einseitigkeit vorwirft, handelt die Türkei jedoch ebenso einseitig. Die Hamas soll weiterhin Geschäfte aus der Türkei abwickeln können und der türkische Sicherheitsapparat geht gegen mutmaßliche Mitglieder des israelischen Geheimdienstes Mossad im Land vor. Damit schützt die Türkei Hamas-Funktionäre, denn Israel hat bereits damit begonnen, Hamas-Führer im Ausland – zum Beispiel im Libanon – zu jagen.
Erdoğan hat sich innenpolitisch an die Spitze der anti-israelischen Bewegung gestellt, lässt seinen Sohn Bilal Erdoğan immer wieder bei Protestmärschen sprechen und eskaliert immer mehr verbal gegenüber dem Westen.
Das hat einerseits machtpolitische Gründe. Ende März finden in der Türkei wichtige Kommunalwahlen statt. Erdoğan und seine AKP möchten die großen türkischen Metropolen Ankara und Istanbul von der kemalistischen CHP zurückerobern, aber es spricht gegenwärtig nur wenig für den Langzeitherrscher in der Türkei: Die türkische Wirtschaft ist am Boden, die Inflation liegt bei 65 Prozent, die türkische Lira stürzt immer weiter ab. Viele Experten behaupten, dass Erdoğan mit seiner Niedrigzinspolitik die türkische Wirtschaft ruiniert habe.
Mehr als ein Ablenkungsmanöver
Um von all diesen Problemen abzulenken, sucht der türkische Präsident Konflikte mit dem Westen. Er biedert sich durch seine anti-israelische Politik bei seiner konservativen Wählerschaft an, indem er sich als Protegé aller Muslime inszeniert. Das ist aber nur ein Blickwinkel.
Andererseits teilt Erdoğan eben nicht die demokratischen Werte vieler westlichen Staaten. In der Türkei ließ er ein Präsidialsystem auf sich zuschneiden, Medien gleichschalten, immer mehr Oppositionelle ins Gefängnis werfen und die Gewaltenteilung quasi abschaffen. Nun regiert er autokratisch aus seinem Palast in Ankara und verbittet sich jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei.
Doch die Türkei braucht seine westlichen Partner und der Westen braucht die Türkei – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Das führt unweigerlich zu Problemen, denn Erdoğan betreibt international Politik wie ein Basarhändler: Es geht ihm bei seiner Zustimmung für die Nato-Erweiterung um Schweden nicht etwa um eine normativ richtige Entscheidung, sondern vielmehr darum, was die Türkei im Gegenzug dafür bekommt. Das wird vor allem in der Schweden-Frage deutlich, denn Erdoğan hatte dem Nato-Beitritt bereits zugestimmt, verzögert ihn nun jedoch aus politischen Gründen.
Viele westliche Staaten möchten sich nun aber nicht von der türkischen Führung erpressen lassen. Besonders deutlich wird das aktuell beim Transfer von Rüstungsgütern, auf die die türkische Armee angewiesen ist. So beharrt Erdoğan auf Lieferungen von F-16-Kampfflugzeugen. Er habe seinen Gesprächspartnern gesagt, dass die Zustimmung des US-Kongresses zur Lieferung der F-16 und die Ratifizierung des türkischen Parlaments des Nato-Beitritts Schwedens gleichzeitig stattfinden sollten, erklärte er Anfang Dezember.
Erdoğan lähmt die Nato
Eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten lässt sich aber nicht von der Türkei erpressen, besonders in einem Wahljahr nicht. Deswegen liegt Schwedens Nato-Beitritt – trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine – aktuell auf Eis.
Aber damit nicht genug: Auch Deutschland hatte seine Rüstungsexporte an die Türkei im Jahr 2023 deutlich eingeschränkt. Erdoğans Zorn darüber führt aktuell zu vielen Komplikationen.
Großbritannien wollte die Ukraine mit Minenräumbooten unterstützen, aber die Türkei blockierte am 3. Januar den Seeweg, über den die Boote geliefert werden sollten. Darüber hinaus hat Erdoğan eine strategische Partnerschaft mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán geschlossen. Der besitzt ein ähnliches Rechtsstaatsverständnis wie der türkische Machthaber und hatte zuletzt Ukraine-Hilfen der EU blockiert. Anfang 2024 erwartet Erdoğan schließlich Besuche des iranischen und des russischen Präsidenten in der Türkei.
All das deutet darauf hin, dass sich die türkische Führung in Richtung autokratischer Regime orientiert. In jedem Fall warten Kreml-Chef Wladimir Putin und das iranische Mullah-Regime auf ein solches Zerwürfnis im westlichen Bündnis, das die Nato schwächt. Der türkische Präsident spielt ihnen damit in die Karten.
Deutsche Strategie geht nicht mehr auf
Die westliche Strategie war es in den vergangenen Jahren, Erdoğans Provokationen möglichst zu ignorieren. Damit wollte man verhindern, dass der türkische Präsident innenpolitisch von den Streitigkeiten profitiert. Immerhin nutzte Erdoğan Konflikte mit dem Westen in der Vergangenheit äußerst geschickt aus. Er präsentierte sich der Bevölkerung als starker Verteidiger der Türkei – gegenüber einem Ausland, das laut der Darstellung des Präsidenten ohnehin muslimfeindlich sei.
Solange westliche Staaten nicht auf die verbalen Eskalationen eingingen, sorgte er mit seinen Ausbrüchen dafür, dass seine Wirtschaft noch immer größeren Schaden nahm. Denn immer mehr westliche Unternehmen zogen sich aus der Türkei zurück und das verschärfte die ohnehin schon eklatante Wirtschaftskrise. Teilweise ging die Strategie für den Westen auf, auf Erdoğans Provokationen nicht zu reagieren: Der türkische Präsident setzte in den vergangenen zwei Jahren in diversen Fragen – Flüchtlinge, Territorialstreit im Mittelmeerraum – auf Entspannung und lenkte im Angesicht seiner wirtschaftlichen Probleme ein.
Doch jetzt funktioniert das nicht mehr, denn die vielen großen geopolitischen Krisen erfordern kontinuierlich schnelle Entscheidungen. Die Nato kann es sich nicht leisten, dass die Türkei in die Arme Putins läuft. Eigentlich sind intensivere Gespräche über eine stärkere Anbindung der Türkei innerhalb des westlichen Bündnisses wichtig, es müssen neue Wege der Zusammenarbeit gefunden werden. Das wird teuer, aber Kompromisse sind in der gegenwärtigen Zeit unabdingbar. Doch Erdoğans Israel-Kurs und seine Hitler-Vergleiche machen das nicht einfach, besonders für Deutschland nicht. Ein riesiges Dilemma.
- tagesschau.de: Zehntausende demonstrieren gegen Israel
- spiegel.de: Heftiger Schlagabtausch zwischen Erdoğan und Netanyahu
- zeit.de: Partner? Das war einmal
- fr.de: Erdogan lässt nach Mossad-Agenten suchen
- zeit.de: Die Türkei wendet sich gen Osten