Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Afghanistan unter den Taliban Was kann der Westen überhaupt noch tun?
2021 verließen die westlichen Truppen Afghanistan. Nun beherrschen die Taliban das Land fast unumschränkt. Was dort geschieht, beschreibt Ellinor Zeino von der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Wer sich in diesen Tagen ein Lagebild zu Afghanistan über ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban verschaffen möchte, informiert sich am besten über Kontakte und Freunde vor Ort, statt nur über (soziale) Medien. So erhält man ein kleines Mosaik zu den Entwicklungen der jeweiligen Lebenssituationen in Zeiten der dünner werdenden Informationslage der formellen Medien.
Ausländische Journalistinnen und Journalisten erhalten zwar Visa und können nach Afghanistan reisen, aber mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und zuletzt den anhaltenden Protesten im Iran ist die Krisenberichterstattung weitergezogen. Zudem hat die Taliban-Führung medial dazugelernt. Sie weiß, welche Bilder internationale Empörung auslösen.
Dr. Ellinor Zeino leitet das Regionalprogramm Südwestasien der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) mit Sitz in Taschkent (Usbekistan). Bis August 2021 war sie Leiterin des Büros der KAS in Kabul. Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist eine der CDU ideell nahestehende Denkfabrik, die sich unter anderem für die europäische Verständigung einsetzt.
In Afghanistan herrscht wieder "Krisennormalität", wie schon vor der Machtübernahme der Taliban: ein Anstieg von Anschlägen, aber unter dem Niveau der letzten Jahre; eine Finanz- und Zahlungskrise, aber die gibt es nun durch die Inflations- und Energiekrise womöglich auch in anderen Ländern; wirtschaftliche Verelendung und Mangelernährung, aber auch diese waren schon unter der alten Regierung auf einem kaum hinnehmbaren Niveau. Bleibt noch das Thema der Frauen- und Freiheitsrechte, darunter insbesondere die Frage der Bildungs- und Berufsfreiheit für afghanische Frauen. Auch hier ist zu befürchten, dass ein internationaler Gewöhnungseffekt einsetzt.
Gegner zu schwach
Die internationale Gemeinschaft befindet sich in einem Dilemma. Die Taliban werden auf absehbare Zeit an der Macht bleiben. Weder die im nördlichen Pandschir-Tal und im benachbarten Tadschikistan angesiedelte National Resistance Front (NRF) um Ahmad Massoud noch der lokale Ableger der dschihadistischen Terrorgruppe "Islamischer Staat" (ISKP) sind politisch oder militärisch stark genug, um zu einer existenziellen Bedrohung für das Taliban-Regime zu werden. Auch die zunehmenden Anschläge bringen die Taliban bisher noch nicht in große Bedrängnis.
Für die Nachbarstaaten und die internationale Gemeinschaft geht es daher aktuell um das "Managen" der neuen Taliban-Regierung in Kabul. Kein Staat hat die Regierung in Kabul bislang anerkannt. Staaten wie Pakistan, Russland, Iran, die Türkei und China hatten jedoch ihre Botschaften in Kabul seit letztem Jahr durchgehend offengehalten. Indien hat ein "technisches" Team zur indischen Botschaft in Kabul entsandt, um weitere Möglichkeiten der humanitären Zusammenarbeit zu prüfen.
Deutschland und die westliche Staatengemeinschaft verfolgen den Ansatz einer "Humanitären Hilfe Plus". Das heißt: bedingungslose humanitäre Hilfe weiterhin garantieren und Unterstützung möglichst an den Taliban vorbei und direkt an die Zivilgesellschaft leiten. Wieviel "Plus" jenseits von humanitärer Hilfe in Zukunft möglich sein kann, ist unklar.
Derzeit gibt es noch viele – auch deutsche – Hilfsorganisationen landesweit vor Ort, die neben humanitärer und medizinischer Versorgung auch grundlegende Bildungsprogramme und Berufsausbildung für Frauen anbieten. Auch wenn eingeschränkte Angebote für Frauen wie Näh- und Handwerkskurse keine vollwertige Bildung ersetzen, erlauben sie den Frauen eine Tätigkeit außerhalb ihres Hauses in einer Zeit der Langeweile und Ungewissheit.
Pragmatismus wird angewendet
Die Nachbarländer der Region haben jeweils ihre eigenen gewachsenen Beziehungen und Vorgeschichten mit Afghanistan. Alle haben jedoch ein unmittelbares Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans. Für eine diplomatische Anerkennung machen die Nachbarländer die Bildung einer (ethnisch) inklusiven Regierung zur Bedingung, da nur die Einbindung aller politisch relevanten ethnischen Gruppen langfristig Stabilität verspricht.
Bei einem Zerfall oder einem erneuten Bürgerkrieg in Afghanistan wären die Nachbarstaaten direkt betroffen. Die Nachbarn – mit Ausnahme Tadschikistans – suchen daher pragmatische Beziehungen zur neuen De-facto-Regierung, damit diese ihre Landesgrenzen vor möglichen Flüchtlingsströmen sowie Drogen- und Waffenhandel schützt. Vor allem aber erwarten sie von den Taliban-Machthabern in Kabul die Garantie, dass es den Dutzenden im Land aktiven Terrorgruppen verwehrt bleibt, ihre Operationen in die Nachbarstaaten auszudehnen und dort radikale Kräfte zu mobilisieren.
Die Tötung des Al-Qaida-Führers Ayman al-Zawahiri durch eine US-Drohne am 31. Juli 2022 in einem Privathaus im Zentrum Kabuls zeigt nicht nur, dass al-Qaida nach wie vor in Afghanistan präsent ist, sondern dass es für die Taliban fast unmöglich sein dürfte, ihre Verbindungen zu al-Qaida zu kappen. Entscheidend bleibt die Frage, ob die Taliban in der Lage und willens sein werden, die im Doha-Abkommen vom Februar 2020 gegebene Antiterror-Garantie zu erfüllen und somit von afghanischem Boden aus keine terroristischen Aktivitäten und Operationen gegen andere Länder zuzulassen.
Das generelle Gewaltniveau im Land, einschließlich Umfang und Anzahl von Anschlägen, hat mit Ende der Kampfhandlungen seit der Machtübernahme deutlich abgenommen. Reisen und Überlandfahrten durch das Land sind nach Jahren des Kriegszustands wieder möglich. Seit einigen Monaten nehmen jedoch terroristische Anschläge gegen Taliban-Mitglieder wie auch vor allem gegen religiöse und ethnische Minderheiten spürbar zu. Der lokale IS-Ableger ISKP ist heute der stärkste Gegner der Taliban. Mit zahlreichen komplexen Anschlägen des ISKP, insbesondere gegen die schiitische Minderheit, haben ethnisch formulierter Hass und Misstrauen wieder zugenommen.
Situation wird schwieriger
Im Gegensatz zur paschtunisch dominierten Taliban-Bewegung ist ISKP eine überwiegend nicht-paschtunische, tadschikisch geprägte Gruppe, die ihre Mitglieder unter ehemaligen Angehörigen der afghanischen Streitkräfte und Taliban-Überläufern rekrutiert. Unter ihren Mitgliedern sind zudem zahlreiche junge Menschen aus der städtischen, gebildeten Mittelschicht, darunter auch Frauen. Und im Gegensatz zu den Taliban propagiert der ISKP eine transnationale, streng-salafistische, anti-schiitische Ideologie.
Afghanistan hat eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit. 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, 60 Prozent unter 25 Jahre alt. Zehntausende Afghaninnen und Afghanen aus dieser neuen Generation sind global vernetzt und informiert, haben eine Schul- und Universitätsausbildung genossen.
Die Rekrutierungen durch salafistische oder dschihadistische Gruppen in Afghanistan und auch andernorts zeigen jedoch auch, dass junge, städtische und säkular gebildete Menschen nicht zwangsläufig liberalen Idealen folgen. Manche der von der Weltgemeinschaft enttäuschten und zurückgelassenen jungen afghanischen Generation könnten sich in Zukunft anderen Idealen zuwenden.
Mit dem neuen geopolitischen Konflikt, den Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, dürften international einvernehmliche Bemühungen für eine inklusivere Lösung in Afghanistan schwieriger geworden sein. Die bisherige Afghanistan-Troika (USA-China-Russland) scheint obsolet zu sein. Russland hat bereits eine Art Afghanistan-Five mit Russland, China, Iran, Pakistan und Indien angekündigt.
Europa und die westliche Staatengemeinschaft werden in Zukunft immer weniger Einfluss auf die Entwicklungen haben. Man kann sich nur wünschen, dass die Staaten der Region ihr gemeinsames Interesse an einem inklusiv geführten Afghanistan, das transnationalen Terrorgruppen Einhalt gebietet, nicht kurzsichtigen Interessen und Stellvertreterkriegen opfern.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.