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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wahlen in Frankreich In den Abgrund geschaut
Die Wahlen in Frankreich haben ein überraschend deutliches Ergebnis gebracht: Das Linksbündnis hat gewonnen, das Mitte-Lager von Macron landet auf dem zweiten Platz. Die Regierungsbildung macht das nicht gerade leichter.
Aus Paris berichtet Kay Walter
Frankreich hat gewählt – und zwar deutlich nicht rechts. Das ist das zentrale und unerwartet deutliche Ergebnis des zweiten Wahlgangs der Parlamentswahlen. Im Gegenteil: Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) gewinnt die Wahlen klar vor dem Parteienbündnis des Präsidenten und noch viel deutlicher vor dem rechtsradikalen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen.
Nach Angaben des französischen Innenministeriums haben die vereinigten Linken mindestens 181 der 577 Sitze im Parlament errungen. Noch überraschender: Das Regierungslager liegt auf Platz zwei, Emmanuel Macrons Kräfte bekommen mehr als 160 Sitze. Der Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und seine Verbündeten konnte demnach nur 143 Sitze holen und liegt damit auf dem dritten Platz.
Kaum jemand hat mit dem Ergebnis gerechnet
Das Ergebnis ist mehr als eindeutig. Der RN, der sich noch vor einer Woche als großer Wahlsieger fühlte und von der absoluten Mehrheit ausging, kommt kaum über ein Viertel der Sitze im Parlament hinaus, und das bei der höchsten Wahlbeteiligung seit über 40 Jahren. Das macht klar, die französischen Wähler wollen keine Regierung von rechts außen.
Wichtig dabei: Das Wahlsystem der Fünften Republik kennt keine Verhältnismäßigkeit, spiegelt also nicht die Gesamtzahl der Stimmen im ganzen Land, sondern nur die Gewinner des jeweiligen Wahlkreises. Gleichwohl, der RN hätte auch beim deutschen Verhältniswahlrecht bei Weitem keine Mehrheit gewonnen, sondern klar verloren – so sehr er sich auch als Vertreter der Mehrheit geriert.
Die Wahllokale auf dem Land hatten um 18 Uhr geschlossen. Auf die erste landesweite Prognose mussten die Wähler allerdings noch zwei Stunden warten, weil in den großen Städten die Urnen bis 20 Uhr geöffnet blieben. Klar war aber bereits: Es würde eine Rekordbeteiligung geben – mehr als 67 Prozent, die höchste seit 1981, kurz nach der Wahl von Mitterrand zum Präsidenten der Republik. Die Prognosen schlugen dann ein wie eine Bombe. Kaum jemand hatte mit diesem Ergebnis gerechnet.
Was bedeutet das?
Noch kennt niemand die genaue Sitzverteilung, aber so viel ist sicher, in der neugewählten Nationalversammlung verfügt niemand über eine Mehrheit. Weder die Linke noch das Präsidentenlager und schon gar nicht die Rechtsradikalen des RN: Ein Novum für die fünfte Republik, die auf eindeutige Mehrheiten ausgerichtet ist. Praktisch heißt das, dass das Parlament an Bedeutung gewinnen wird.
Es wird miteinander gesprochen, ja ernsthaft verhandelt werden müssen, um Sachfragen womöglich gar gemeinsam zu lösen. Das kann den Abgeordneten eine neue Macht gegenüber dem Präsidenten verschaffen, so man denn zu gemeinsamen Lösungen findet und sich nicht nur gegenseitig blockiert. Ob das gelingen kann, bleibt abzuwarten. Viel Übung in dieser Frage hat das französische Parlament nicht.
Wie geht es weiter?
Zunächst einmal ist Präsident Macron gefragt. Er wählt und bestimmt einen Premierminister. Das geschieht gemeinhin, aber nicht zwingend, aus der stärksten Fraktion. So will es die Verfassung. Der linksradikale Ex-Trotzkist Jean-Luc Mélenchon hat sich bereits wenige Minuten nach der ersten Prognose in Stellung gebracht. Er sieht sich selbst als den "geborenen Kandidaten". Die Einschätzung hat er ziemlich exklusiv.
Denn in Wahrheit will selbst das Linksbündnis NFP Mélenchon nicht. Sozialisten und Grüne werden ihn ziemlich sicher nicht unterstützen. Das kann vorausgesetzt werden. Denn die Parti Socialiste haben nicht nur bei den Europawahlen eine kleine "Wiedergeburt" erlebt, sie liegen auch bei der Anzahl der Parlamentssitze nahezu gleichauf mit Mélenchons Partei La France insoumise (LFI).
Das gibt ihnen eine starke Position. Der in die Nationalversammlung gewählte Ex-Präsident François Holland steht wohl nicht zur Verfügung, eher schon der Spitzenkandidat bei den Europawahlen Raphaël Glucksmann. Aber auch das ist am heutigen Tag reine Spekulation. Wer in der Lage ist, wenigstens partiell Bündnisse im Parlament schmieden zu können, ist fraglich. Danach aber wird sich die Entscheidung von Macron zu richten haben.
In den Abgrund geschaut
Es wird in den nächsten Tagen sehr viele Gespräche geben darüber, wer als nächster Premier in den Matignon einzieht, manche öffentlich, die meisten aber hinter verschlossenen Türen. Am Abend des 7. Juli 2024 – und sicher auch noch in den nächsten Tagen – überwiegt die Überraschung ob dieses ziemlich unerwarteten Wahlausgangs.
Frankreich hat in den Abgrund einer rechtsradikalen Mehrheit geschaut. Und sich mit großer Mehrheit deutlich dagegen entschieden. Ob es jetzt einen Weg findet, die ungewohnte Pattsituation im Parlament produktiv zu lösen, muss sich zeigen.
- Eigene Beobachtungen