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Szenarien zur Hungerkrise | Wer die Menschen nicht nährt, füttert Konflikte


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Szenarien zur Hungerkrise
Wer die Menschen nicht nährt, füttert Konflikte

MeinungVon Marcus Ewald

Aktualisiert am 28.05.2022Lesedauer: 5 Min.
Essen auf Lager: Eine Halle voller Lebensmittel des World Food Programm (WFP) in Beirut, Libanon. Mehr Menschen sind auf Unterstützung angewiesen, zugleich steigen auch die Ausgaben des WFP.Vergrößern des Bildes
Essen auf Lager: Eine Halle voller Lebensmittel des World Food Programme (WFP) in Beirut, Libanon. Wie geht die Welt damit um, dass mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen sind? (Quelle: Thomas Koehler/photothek.de/imago-images-bilder)
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Der Welt droht mehr Hunger. Der UN-Sicherheitsrat rechnet mit 400 Millionen Menschen zusätzlich, deren Versorgung durch hohe Preise gefährdet ist. Krisenberater Marcus Ewald skizziert verschiedene Szenarien.

Die russische Aggression ist nur ein zusätzlicher Grund von mehreren, die zur Verschärfung des Hungers auf der Welt führen können. Insgesamt gibt es vier Auslöser: Krieg, Klima, Angst und Inflation. Die Welt hat mehrere Möglichkeiten, darauf zu reagieren – und von diesen Reaktionen hängt ab, welche Szenarien wir erwarten müssen.

Zunächst müssen wir festhalten: Die Lage war bereits vor dem Krieg problematisch. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar warnte David Beasley vom World Food Programme: "In den nächsten neun Monaten wird es zu Hungersnöten, zur Destabilisierung von Nationen und zu Massenmigrationen kommen." Aktuell hat die Welt noch Getreidevorräte für 10 Wochen.


Marcus Ewald ist hauptberuflicher Krisenmanager und Krisenberater. Seine jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit Unternehmen, Kirchen und Verbänden lehrte ihn: Alles kann passieren. Szenarien sind das wichtigste Werkzeug, um in unübersichtlichen Lagebildern die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Die Experten des World Food Programme (WFP) fürchten, dass die Zahl vom Hunger bedrohter Menschen auf 323 Millionen steigen könnte. Vor dem Krieg waren 193 Millionen von Hunger bedroht, 2017 waren es noch 109 Millionen. Was sind die Ursachen?

1. Der Krieg blockiert Ausfuhren und führt zu Ernteausfällen

Mykola Solsky, der ukrainische Landwirtschaftsminister, sagt, dass die Blockade des Hafens von Odessa 98 Prozent der ukrainischen Exporte verhindere. Das Getreide könnte in den Silos verrotten.

Außerdem ist die Hälfte der Getreidefelder der Ukraine direkt vom Krieg betroffen. Es wird nicht gedüngt, Schädlinge werden nicht bekämpft. Darüber hinaus werden 30 bis 50 Prozent der Frühlingssaat nicht gesät – und können dann im Herbst nicht geerntet werden.

2. Extremes Wetter verringert die Erträge weltweit

40 Prozent der US-Getreidefelder leiden unter der schlimmsten Dürre seit 2012/13, normalerweise sind nur 15 bis 20 Prozent von extremer Trockenheit bedroht. Die Produktionsmenge von Wintergetreide in den USA wird daher 2022 um 21 Prozent zurückgehen.

In China und Indien behindern Dürren die Ernten, und am Horn von Afrika herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Spanien erlebt den heißesten Mai seit 20 Jahren, in Frankreich fallen Hitzerekorde.

3. Angst vor Knappheit führt zu Ausfuhrbeschränkungen

Am 13. Mai verhängte die indische Regierung ein Ausfuhrverbot für Getreide. Weltweit beschränken 26 Länder Getreideexporte, und das betrifft etwa 15 Prozent der weltweit gehandelten Kalorien.

Gleichzeitig ist wichtig: Nur etwa 20 Prozent der weltweiten Kalorien wird über Grenzen gehandelt; 20 Prozent von 15 Prozent sind also etwa 3 Prozent der weltweit produzierten Kalorien, die von Ausfuhrbeschränkungen betroffen sind. Einige Länder, die von Importen abhängig sind, trifft es also besonders.

Dabei sind die Preise für Weizen erstmals auch über dem Niveau, das bei der letzten großen Getreide-Krise von Juni 2007 bis November 2008 herrschte.

Leider scheinen Ausfuhrstopps nicht nur Getreide zu betreffen: Zum 1. Juni wird Malaysia den Export von Huhn einschränken, um die eigene Nahrungsmittelversorgung zu sichern. Das ist aus Sicht der Einzelstaaten rational, weil sie sonst Instabilität fürchten müssen. Doch wenn es Schule macht, dürften noch weitere Bereiche des globalen Kalorien-Marktes Preissteigerungen erleben.

4. Inflation verteuert Grundstoffe

Inflation hat zwei Konsequenzen: Erstens werden Düngemittel und andere Grundstoffe teurer – Produktion wird also kostspieliger. Daher lohnt es sich häufig nicht, mehr zu produzieren, obwohl höhere Erträge aus höheren Verkaufspreisen winken. Zweitens steigen die allgemeinen Kosten bei nationalen und internationalen Hungerhilfen, wie beispielsweise für Schulessen.

Wenn in armen Familien das Essen für die Kinder wegfällt, werden die Kinder oft von der Schule genommen und verheiratet oder müssen stattdessen arbeiten, sagt Carmen Burbano vom WFP "School Feeding Program".

Das Problem liegt nicht in der Zukunft, sondern schon in der Gegenwart: Vor Covid wurden 388 Millionen Schulkinder durch solche Programme gespeist, Anfang des Jahres waren es 56 Millionen weniger. In Kirgisistan gibt es nur noch an zwei bis drei statt fünf Tagen Schulessen. In Syrien wird das Essen an Schulen auf 1.000 Kalorien rationiert.

Das ist also die Ausgangslage. Aber was sind die Szenarien? Es kommt alles darauf an, wie gut die Welt reagiert. Und da gibt es drei Szenarien:

1. Der Best Case

Getreideproduktion und Getreideverbrauch werden weltweit konsequent gemanagt. Es geht weniger in Biosprit und Tiernahrung, und wer kann, spart Getreide. Exporte werden nicht blockiert. Die Welt bleibt stabil.

2. Der Middle Case

Die Welternährungsprogramme erhalten massive Hilfe und geben in Schulen und bedrohten Regionen genügend Mahlzeiten aus, um die schwersten humanitären Folgen zu dämpfen. Wer kann, hamstert trotzdem.

3. Der Worst Case

Wenn wir nichts unternehmen, gilt: Wer keine Menschen füttert, füttert Konflikte. Der Arabische Frühling entstand in einer Zeit, als es in fast 40 Ländern Hungerrevolten gab. Es droht zweierlei:

Erstens drohen durch Hunger weltweit politische Instabilität und Gewalt, was Wolodymyr Selenskyj auch früh vorbrachte. Zweitens könnte das Chaos und der Hunger viele Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen und zu flüchten: in die Regionen mit genügend Essen, beispielsweise Europa. Massenmigration wiederum stärkt oft rechte Parteien – und das stärkt Putin.

Szenarien wie diese drei sollen keine Angst machen, sondern uns dazu befähigen, auf den Best Case zuzusteuern. Welches Szenario es wird, hängt von der inhärenten Kernunsicherheit ab – wie gut gelingt es uns, diese entstehende Krise zu managen? Wir haben einige Reaktionsmöglichkeiten.

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1. Beispielsweise könnten Ausfuhren aus der Ukraine auch auf Schienen und über die Donau geleistet werden. Die ukrainischen Getreideexporte über die Donauschifffahrt konnten im Mai bereits um 50 Prozent erhöht werden. Das Ziel ist eine weitere Verdopplung der Transportkapazitäten in den nächsten Monaten. Aber selbst wenn die Blockade Odessas beendet werden könnte oder der Krieg ohne Partisanenaktivität endet: Die Frühjahrssaat hat nicht stattgefunden.

2. Das weltweite Angebot an Getreide muss erhöht werden – wo keine Dürre herrscht, muss mehr angebaut werden. Dazu kann die nationale Agrarpolitik einschreiten, wie von der CDU in der Aktuellen Stunde des Bundestags am 11. Mai gefordert. Es kann aber auch weniger in Biosprit oder Tiernahrung fließen.

3. Der Welthandel muss stabilisiert werden und Länder müssen dazu ermutigt werden, keine Ausfuhrbeschränkungen für Lebensmittel einzuführen. Es gibt historische Vorbilder: Im Ersten Weltkrieg formten die Alliierten eine Einkaufsallianz, um Preisspekulationen vorzubeugen: die "Wheat Executive". Kurz danach wurde das überstaatliche Allied Maritime Transport Council (AMTC) gegründet, um auch die Transportkosten zu minimieren.

Vermutlich müssen sich heute UN-Institutionen, Welthandelsorganisation und Weltbank zusammentun, um drei Ziele zu verfolgen: die Inflation der Grundstoffe global bremsen, um Produktion und Hilfsprogramme zu stützen, die gerechtere Verteilung bestehender Lebensmittel sicherstellen und unilaterale Exportstopps unterbinden.

4. Die Welternährungsprogramme brauchen massive Hilfe. Neben Nahrungsmittelpreisen treibt auch die allgemeine Inflation die Kosten. Die Relevanz für sozialen Frieden ist hoch: Das Essen für Schulkinder mache für Haushalte in Armut das Äquivalent von 10 Prozent des Haushaltseinkommens aus, sagt beispielsweise die Weltbank. Und wenn Menschen ihre Kinder nicht mehr ernähren können, werden viele verzweifeln.

Die Lage scheint ernst und wenn die Weltgemeinschaft nicht handelt, werden wir Konflikte ernten. Aber noch ist Zeit, Stabilität zu gewährleisten.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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