Verständnis für Bundesregierung Philosoph Habermas: Westen muss im Blindflug abwägen
Einer der wichtigsten deutschen Denker warnt vor einer Eskalation des Ukraine-Krieges. Jürgen Habermas lobt die Zurückhaltung von Olaf Scholz – und gibt eine Einschätzung zu Wladimir Putin.
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas warnt in der "Süddeutschen Zeitung" vor einer weiteren Eskalation des Krieges. Mit jedem Toten, mit jedem Kriegsverbrechen, die Russlands Invasionsarmee in der Ukraine zu verantworten habe, steige unter den Zuschauern im Westen die Erschütterung – "und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun", schreibt er in einem Gastbeitrag.
Der emeritierte Professor stellt sich hinter die Art und Weise, wie die Bundesregierung derzeit handele. Ihn irritiere "die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten".
Erst nach langem Zögern hatte Bundeskanzler Olaf Scholz die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine in Betracht gezogen. Die Union hatte mit einem eigenen Antrag gedroht, schließlich kam es doch zu einer Einigung: 50 Marder-Panzer werden geliefert.
Dilemma für die Bundesregierung
Habermas kann die abwartende Haltung nachvollziehen: Der Westen stecke durch seinen Entschluss, nicht zur Kriegspartei werden zu wollen, zweifelsohne in einem Dilemma, schreibt der 92-Jährige. Er müsse zwischen den Risiken einer Niederlage der Ukraine und der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum Dritten Weltkrieg abwägen – und das gewissermaßen im Blindflug: Letztlich entscheide Russlands Präsident Wladimir Putin darüber, ab welchem Punkt er die Unterstützung des Westens für die Ukraine als formalen Kriegseintritt betrachte.
Zwar kenne Russland diese "Asymmetrie", allerdings wolle der Westen sich nicht erpressen lassen, so Habermas. "Der Entschluss zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, dass der Westen die Ukraine 'up to the point of immediate involvement' (bis zum Punkt eines unmittelbaren Einschreitens) dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überlegenen Gegner überlassen muss."
Habermas erlebte als junger Mensch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Er übt Kritik an jenen, die aus sicherer Entfernung Ratschläge geben. "Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt", schreibt der Frankfurter Soziologe. Und sie übersehe, dass Kriege gegen eine Macht, die neben einer beachtlichen Landstreitmacht auch über Atomwaffen verfüge, nicht mehr im herkömmlichen Sinne "gewonnen" werden könnten.
Dass die deutsche Ostpolitik seit jeher auf Dialog ausgelegt war – anders als bei einigen Verbündeten –, sei gut begründet. "Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen", schreibt der Philosoph.
Beim russischen Präsidenten Wladimir Putin sieht Habermas Anzeichen der Schwäche. Dem Bild des "wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers" stehe ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten, "rational kalkulierenden Machtmenschen gegenüber", analysiert der Sozialkritiker. Putin beginne aber wegen der Westwende der Ukraine und Widerstandsbewegungen wie in Belarus, um seine Macht zu fürchten.
Vertreter der Frankfurter Schule
Jürgen Habermas gehört zu den bedeutendsten noch lebenden deutschen Denkern. Er zählt zur zweiten Generation der Frankfurter Schule, die maßgeblich von den Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer begründet wurde. Habermas lehrte an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität und gilt als einer der meistrezipierten deutschen Philosophen.
Er nimmt immer wieder zu aktuellen politischen Themen Stellung, zuletzt über die Rolle der Grundrechte bei den Maßnahmen der Corona-Pandemie. Als Anhänger der "kritischen Theorie" sieht Habermas es als seine Aufgabe an, Ideologien zu hinterfragen und Herrschaftsstrukturen aufzudecken.
- Vorabmeldung der Süddeutschen Zeitung