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Sicherheitsexperte: "Diese Krise wird schwerer sein als die Kuba-Krise"


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Putin eskaliert
"Das sind klare Lügen der russischen Seite"

InterviewVon Christoph Cöln

Aktualisiert am 22.03.2022Lesedauer: 5 Min.
Wladimir Putin bei einer Unterredung mit dem Gouverneur des Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen. Die Provinz im unwirtlichen Norden Russlands verfügt über gewaltige Erdöl- und Gasvorkommen.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin bei einer Unterredung mit dem Gouverneur des Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen. Die Provinz im unwirtlichen Norden Russlands verfügt über gewaltige Erdöl- und Gasvorkommen. (Quelle: Mikhail Klimentyev / Sputnik Moscow Russia/imago-images-bilder)

Russland setzt im Ukraine-Krieg bereits eine neue Generation Waffen ein. Weitere militärische Eskalationen werden befürchtet. Der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn sieht ein neues Zeitalter der Aufrüstung gekommen.

t-online: Herr Kühn, Russland hat im Ukraine-Krieg offenbar ein neues Waffensystem getestet, das als "Wunderwaffe" gilt. Warum setzt Russland dieses System ausgerechnet jetzt ein?

Ulrich Kühn: Es kann sein, dass Wladimir Putin dem Westen damit seine Durchsetzungsfähigkeit und militärische Stärke demonstrieren will. Es kann aber auch etwas anderes sein, dass nämlich dem russischen Militär langsam die Hochpräzisionswaffen ausgehen und man deswegen solche Systeme einsetzt. Das wiederum wäre ein Zeichen der Schwäche, denn es würde bedeuten, dass sich die russischen Munitionsdepots leeren. Ganz genau wissen wir das noch nicht.

Handelt es sich denn wirklich um eine "Wunderwaffe"?

Die Idee ist so neu nicht, die gab es schon im Kalten Krieg. Das Neue an diesem System ist, dass die Kinschal wegen ihrer semiballistischen Flugkurve während der gesamten Zeit innerhalb der Atmosphäre fliegen kann. Zusammen mit der Manövrierfähigkeit, mit der die Kinschal angeblich ausgestattet ist, macht es das gegnerischen Abwehrsystemen sehr schwer, eine solche Rakete vom Himmel zu holen. Und wenn das Trägersystem dann noch mit Decoys ausgestattet ist, also mit Täuschobjekten, sinken die Abwehrchancen zusätzlich.

Hohe US-Militärs, wie der General John E. Hyte, sprechen davon, dass sich die Nato gegen diese Systeme nicht verteidigen kann. Das klingt einigermaßen beunruhigend.

Es ist nicht so, dass es auf westlicher Seite gar keine Abwehrmöglichkeiten gibt. Systeme wie die Patriot sind durchaus effektive Abwehrsysteme, die ausgelegt sind, um ballistische Raketen und ihre Flugkörper herunterzuholen. Ob das bei der Kinschal aber schon möglich ist, dafür gibt es derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse.

Dennoch schleicht sich ein Gefühl der Verwundbarkeit ein.

Der Krieg in der Ukraine wird unabhängig vom Einsatz dieser neuen strategischen Waffen zu einem Wiederaufflammen der Sicherheitsdebatte führen. Dabei geht es um die Frage, in welcher Form wir die Länder an der Ostflanke der Nato unterstützen, denn wir dürfen eines nicht vergessen: Durch den Ukraine-Krieg verschiebt sich die Karte. Bisher hatte die Nato eine Grenze mit Russland im Baltikum und in Polen. Jetzt verläuft die Grenze auch entlang von Ländern wie der Slowakei, Ungarn, Rumänien und, wenn man die Seegrenze im Schwarzen Meer dazuzählt, auch Bulgarien. Diese Länder werden mit gutem Recht fragen: Tut die Nato militärisch genug für unsere Sicherheit?

Dr. Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs "Rüstungskontrolle und Neue Technologien" am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er ist außerdem ein Non-Resident Scholar des Nuclear Policy Program, Carnegie Endowment for International Peace, sowie Gründer und Ständiges Mitglied der trilateralen Deep-Cuts-Kommission. Vor seinem Wechsel zum IFSH arbeitete Ulrich Kühn für das Vienna Center for Disarmament and Non-Proliferation, die Helmut-Schmidt-Universität und das Auswärtige Amt.

Welche Antwort sollten wir ihnen geben?

Wir werden sehr bald eine neue Stationierungsdebatte führen, wie man diese Länder konventionell rückversichern kann. Ganz konkret: Was müssen da für Verbände hingesetzt werden, wie viele Soldaten müssen dort stehen, welche Luftabwehrsysteme können und wollen wir dahin setzen? Das ist auch eine Kostenfrage, denn Luftabwehrsysteme sind kostspielig.

Es droht uns also eine neue Aufrüstungsspirale?

Ja, ich sehe leider eine klare Remilitarisierung auf Europa zukommen. Ob das Ganze einen Rüstungswettlauf bedeutet, wissen wir noch nicht. Aber ich möchte es nicht ausschließen. Und ich würde auch nicht ausschließen, dass die Nato irgendwann eine neue Debatte beginnt über die mögliche Stationierung nuklearer oder zumindest von Dual-Use-Systemen in Osteuropa, also solcher Systeme, die konventionelle und nukleare Sprengköpfe tragen können.

Putin wirft uns also in die Zeit des Kalten Krieges zurück?

Man muss das leider so sagen. Ich würde sogar sagen, dass wir uns in einer längeren Krise befinden, die unter Umständen schwerer sein wird als die Kuba-Krise 1962 und die eine klare nukleare Dimension besitzt.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Putin den Konflikt auch auf Nato-Gebiet ausweitet?

Momentan gibt es keine Anzeichen dafür, dass Putin oder sein Militär eine weitere Eskalation gegen die Nato forciert. Was ich aber sehe, ist die Gefahr unbeabsichtigter Eskalation. Beispielsweise an der Grenze der Ukraine zur Slowakei. Dort gibt es einen Flugplatz, der sehr nah an der Grenze liegt. Wenn Russland diesen Flugplatz mit Hochpräzisionslenkwaffen bombardieren sollte, kann es durchaus passieren, dass ein oder zwei davon auf Nato-Gebiet landen. Das passiert in einem heißen Krieg schon mal.

Dann würde der Bündnisfall nach Artikel 5 eintreten. Das würde aber nicht zwangsläufig eine nukleare Eskalation bedeuten.

Das ist richtig. Es gibt eine Hotline zwischen hochrangigen russischen und amerikanischen Militärs, um etwa ein solches Szenario wie mit der verirrten Rakete schnell aufzuklären. Die Chance einer nuklearen Eskalation ist momentan sehr gering, aber sie ist eben auch nicht bei null, und ich könnte mir vorstellen, dass sie in den kommenden Wochen noch steigt, je mehr Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Er muss Nuklearwaffen ja nicht unbedingt gegen die Nato einsetzen, er könnte sie auch gegen die Ukraine einsetzen.

Mit taktischen Nuklearwaffen?

Nuklearwaffen mit einer kürzeren Reichweite und unter Umständen auch einem kleineren Gefechtskopf, der eine geringere Sprengkraft hat. Aber was heißt in diesem Fall schon "klein"?

Es gibt keinen "kleinen" Atomkrieg.

Ein Einsatz von Nuklearwaffen zum jetzigen Zeitpunkt würde bedeuten, dass wir ein 77 Jahre lang bestehendes Tabu gebrochen sehen würden. Das wäre das Schlimmste, was wir erleben könnten. Und ich hoffe sehr, dass das nicht passieren wird.

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Wie sieht es mit einer Eskalationsstufe darunter aus, dem Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen?

Nachdem der Krieg für Putin gar nicht nach Plan verläuft, Russland sich jetzt auf den Beschuss durch klassische Artillerie verlegt und dabei anscheinend auch thermobarische Systeme einsetzt, wäre das natürlich die nächste Eskalationsstufe. Was wir bislang noch nicht gesehen haben, ist der Einsatz chemischer Waffen, wie Russland es im Syrienkrieg gemacht hat. Aber es gibt zu denken, dass es von russischer Seite diese öffentlich vorgebrachten Lügen gibt, dass es angeblich B- und C-Waffenprogramme in der Ukraine gebe. Das sind klare Lügen. Die Uno hat sich dazu ja auch schon entsprechend geäußert. So was lässt natürlich die Möglichkeit offen, dass Russland False-Flag-Aktionen und möglicherweise C-Waffen einsetzt, um es dann der ukrainischen Seite in die Schuhe zu schieben. Auch das haben wir bereits in Syrien gesehen.

Mit verheerenden Folgen.

Das wäre extrem schlimm. Natürlich zuerst für die Zivilbevölkerung. Es würde aber auch den Druck auf den Westen erhöhen, irgendetwas zu tun. Vor diesem Irgendetwas warne ich als jemand, der sich seit Jahren mit solchen Eskalationsdynamiken beschäftigt.

Weil?

Weil das in der Konsequenz bedeutete, dass die Nato mit Truppen in die Ukraine hineingehen, russische Stellungen beschießen und Präzisionsschläge gegen russisches Territorium vornehmen müsste. Und da wäre es dann angebracht, die Worte von Joe Biden zu wiederholen: Dann wären wir mitten im Dritten Weltkrieg.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Dr. Ulrich Kühn
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