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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aktivistin über Putins Propaganda "Wir verstehen jetzt, wie Deutsche unter Hitler zu Nazis wurden"
Die Hoffnung des Westens auf Massenproteste in Russland ist groß. Doch wie liegen die Mehrheiten in der Bevölkerung wirklich? Eine Aktivistin erklärt, wer Protest wagt – und wie Putins Propaganda und Repression wirken.
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine hat Wladimir Putins Regime Zensur und Repression in Russland verschärft. Lügen dominieren die Medien, bereits der kleinste Widerspruch kann hart bestraft werden. Dennoch gehen jede Woche Tausende Russen auf die Straßen und demonstrieren.
Die Proteste sind die große Hoffnung des Westens, der nicht direkt eingreifen will: Revoltieren die Russen in Massen, könnten sie Putins Krieg im Inland die Legitimation entziehen. Vielleicht gar dem gesamten System Putin.
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Doch die Lage ist aus dem Ausland schwer einzuschätzen. Wie groß ist der Widerstand gegen Putin zurzeit wirklich? Wer wagt es, auf die Straße zu gehen? Und wie wirkt sich die verschärfte Propaganda aus? Ein Gespräch mit Maria Kuznetsova von OVD-Info, einem der letzten humanitären Projekte in Russland.
t-online: Der Kreml zensiert die Berichterstattung, viele Journalisten sind geflohen, Propaganda beherrscht das Bild – im Ausland kann man sich zurzeit kein klares Bild zur Lage in Russland machen. Wie bewerten Sie die Stimmung in der russischen Bevölkerung?
Maria Kuznetsova: Um die Lage in Russland zu verstehen, muss man verstehen: Alle russischen Fernsehsender werden seit gut zehn Jahren vollständig von der Regierung kontrolliert. Menschen über 40 verlassen sich vor allem auf das Fernsehen. Sie erhalten ausschließlich die fürchterliche Staatspropaganda, in der es heißt: Ukrainer sind Nazis, Ukrainer sind Faschisten, sie töten unsere Kinder und Soldaten. Die Älteren werden leicht Opfer dieser Propaganda.
Menschen unter 40 informieren sich hingegen vor allem über das Internet – das wird vom Kreml zwar auch zensiert, ist aber noch sehr viel freier. Sie verstehen die Lage viel besser.
Schon vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine ist der Kreml mit Gewalt und Festnahmen gegen Demonstranten vorgegangen. Jetzt wurde ein neues Zensurgesetz verabschiedet. Welche Repressionen drohen Demonstranten zurzeit?
So gut wie alles steht jetzt unter Strafe. Schon nur online zu teilen, wann und wo Demonstrationen stattfinden, bringt dich schnell für zehn Tage hinter Gitter. Wenn du jetzt das Wort "Krieg" in den Mund nimmst, drohen dir mehr als zehn Jahre Haft. Wir sehen sehr viele Anzeigen wegen Extremismus oder Terrorismus – basierend nur auf Instagram- oder YouTube-Posts.
Die Polizei sucht Aktivisten vor Demo-Tagen in ihren Wohnungen auf und warnt sie, an Protesten teilzunehmen. Bei den Demos werden Kameras mit Gesichtserkennung eingesetzt – selbst, wenn du eine Maske trägst, wirst du identifiziert. Es ist vergleichbar zur Lage in China. Oft schaut später die Polizei bei dir vorbei. Du kannst aus der Uni geworfen werden oder deinen Job verlieren.
Ausgezeichnete Verteidiger der Bürgerrechte
OVD-Info ist ein humanitäres Medienprojekt. Rund 70 Mitarbeiter und 6.000 Freiwillige informieren über kremlkritische Proteste in Russland, monitoren die Demonstrationen, dokumentieren Festnahmen, recherchieren und stellen juristische Betreuung. Auch die Presse im Ausland informieren sie in kürzester Zeit über die Zahl der Festnahmen. 2021 erhielt die Organisation die Auszeichnung "Civil Rights Defender of the Year" (Bürgerrechtsverteidiger des Jahres).
Welche Wirkung hat diese Repression?
Die Menschen in Russland kennen die Lage sehr genau. Sie wissen: Selbst wenn sie friedlich demonstrieren, ist die Gefahr sehr groß, drangsaliert, angezeigt oder ins Gefängnis geworfen zu werden. Die meisten haben eine riesige Angst davor, sich frei zu äußern. Und die Informationslage verschlechtert sich zusehends. 200 Journalisten haben Russland in den vergangenen zwei Wochen verlassen. Viele Medienhäuser wurden geschlossen, andere Journalisten sind von sich aus gegangen, weil das Risiko zu groß ist.
Wer wagt es in einer solchen Lage überhaupt noch zu protestieren?
Was wir jetzt sehen, ist moralischer Protest gegen den Krieg, gegen das Töten. Auf der Straße stehen vor allem junge Leute von 15 bis 40. Auch Teenager werden oft festgenommen. Es sind oft Angehörige der Intelligenzia – Studenten, Professoren, Künstler, IT-Spezialisten. Ich schätze circa 60 Prozent sind Männer, 40 Prozent Frauen. Letztere werden inzwischen ebenso oft festgenommen wie die Männer. Das war früher anders. Aber die Polizei hat inzwischen verstanden: Auch Frauen sind eine Gefahr.
Wie würden Sie Putins Regime jetzt beschreiben: Ist das Faschismus?
Es ist ein drastischer Wechsel des Regimes, den wir nicht erwartet haben. Auch unsere Experten haben nicht geglaubt, dass Putin diesen Krieg wirklich beginnt – bis zu dem Tag, als er in der Ukraine einmarschiert ist. Nun ist sein Regime vollkommen faschistisch, militärisch, autoritär. Wie eine Diktatur im 20. Jahrhundert. Und seine Propaganda zeigt Wirkung – die Menschen werden brutaler, weniger empathisch. Wir verstehen hier plötzlich zum ersten Mal, wie so viele Deutsche unter Hitler zu Nazis wurden. Es passiert vor unseren Augen.
Sehen Sie die Chance, dass die Proteste in den nächsten Wochen so sehr anwachsen, dass Putins Regime ein Problem bekommt?
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir in den nächsten Wochen andere, neue Proteste erleben werden – nämlich Demonstrationen mit ökonomischem Hintergrund: Viele Leute werden kein Geld und keinen Job mehr haben, sie werden Probleme bekommen, ihre Familie zu ernähren.
Kann das Putin in Bedrängnis bringen?
Probleme hat das System schon jetzt – zum Beispiel hat die Polizei schlicht nicht genügend Zellen für die ganzen Demonstranten, die sie gerne festnehmen will. Außerdem wächst die Zahl von Staatsangestellten, die die Lage kritisch sehen. In dieser Woche hat eine Angestellte des Propaganda-Senders Channel One auf Sendung mit einem Schild gegen den Krieg protestiert. Viele andere beginnen, den Krieg kritisch zu sehen, treten zurück oder kommen nicht mehr zur Arbeit. Es ist ein Protest auf andere Art, der aber sehr, sehr wichtig ist. Er legt die Regierungsmaschinerie lahm.
Also ist das die große Hoffnung beim Demonstrieren: gar nicht die große Mehrheit zu überzeugen – sondern entscheidende Stellen, die Angestellten des Systems?
Diese Regierung interessiert die öffentliche Meinung nicht – aber die Meinung von denen, die mit ihnen arbeiten. Sie können einen Unterschied machen.
Nach Protesten veröffentlicht OVD-Info innerhalb kürzester Zeit, wie viele Demonstranten festgenommen wurden – und sogar die Namen fast aller Festgenommenen im gesamten Land. Wie funktioniert das, wie arbeiten Sie genau?
Wir haben in Russland seit Jahren große Proteste und immer dasselbe Problem: Die Polizei nimmt viele Menschen fest, aber informiert Angehörige nicht darüber. Die machen sich Sorgen – und zu Recht: Oft gibt die Polizei den Festgenommenen kein Essen oder Wasser. Wir haben deswegen eine Hotline, auf der alle anrufen können, die festgenommen wurden. Sie geben uns nicht nur ihren Namen durch, sondern die aller anderen, die in ihrer Polizeistation festsitzen. Unsere Anwälte ziehen dann zu den Polizeistationen und dringen auf Freilassung.
In Regionen, in denen wir schlecht vernetzt sind, scannen wir zugleich Gruppen von Aktivisten in den sozialen Medien, in denen Zahlen und Namen zu den Festnahmen geteilt werden.
Das ist sehr viel Arbeit in sehr kurzer Zeit. Wie viele Leute sind Sie?
Bei OVD-Info sind wir 70 Angestellte, unterstützt werden wir von rund 300 Anwälten. Zusätzlich haben wir rund 6.000 Freiwillige, die uns helfen. Wir müssen diese Leute sehr genau überprüfen, bevor sie Zugang zu unseren Datensammlungen bekommen. Wir dürfen nie blind vertrauen – die Polizei würde uns sehr gerne infiltrieren.
Zur Person
Maria Kuznetsova, 24 Jahre alt, arbeitet seit einem Jahr als Pressesprecherin für OVD-Info. Zuvor hat sie bereits sechs Jahre lang für unterschiedliche Menschenrechtsorganisationen in Russland gearbeitet. Das hatte bereits früh persönliche Folgen für sie: An ihrer Universität schlug die Polizei auf und befragte Hochschulmitarbeiter zu ihr. Dass sie überhaupt ihren Abschluss machen konnte, darüber ist Kuznetsova selbst verwundert. "Ich weiß nicht, warum", sagt sie – wie so oft in diesem Gespräch über Putins Russland.
Wie genau begegnet das Regime Ihnen?
Schon 2020 und 2021 wurden sehr viele freie Medien als "ausländische Agenten" eingestuft – auch OVD-Info. Uns wird vorgeworfen, dass es uns gar nicht wirklich gibt oder wir Geld aus den USA erhalten. In Russland wurde unsere Webseite bereits im Dezember, also vor dem Krieg, gesperrt. Nur unser Telegram-Account und unser Account im russischen Pendant zu Facebook funktionieren noch. Wir wissen nicht, warum. Aber wir rechnen jeden Tag damit, dass wir auch dort gesperrt werden.
Treffen Sie die Sanktionen beziehungsweise Reaktionen westlicher Unternehmen?
Wir hatten einen riesigen E-Mail-Verteiler bei dem US-Unternehmen Mailchimp. Sie haben in dieser Woche alle russischen Accounts gesperrt – also auch unseren und den von den wenigen verbliebenen freien russischsprachigen Medien wie Medusa. Da wird leider zu wenig differenziert.
Wie ist die Lage für Sie persönlich?
Weil ich unter Klarnamen mit der Presse rede, halte ich mich nicht in Russland auf, sondern in Georgien. Ich kann nicht in meine Heimat zurückkehren. Sonst würde ich sofort am Flughafen verhaftet.
Weswegen könnte man Sie belangen?
Es gibt eine Menge Anklagen, die sie erheben könnten. (lacht) Das neue Zensurgesetz könnte greifen, weil wir wahrheitsgemäß über den Krieg informieren. Weil ich für die Ukraine Partei ergreife, könnte ich auch wegen Landesverrats oder Spionage angeklagt werden. Das würde mindestens 15 bis 20 Jahre Haft bedeuten.
Was können Menschen im Westen tun, um Sie zu unterstützen?
Es ist ein großes Problem, dass viele Menschen in Europa jetzt alle Russen als Putin-Unterstützer ansehen. Der Freund, der uns in Georgien aufgenommen hat, wurde angebrüllt und mit einem Messer attackiert, weil er uns geholfen hat. Eine Freundin, die russisch aussieht, wurde auf der Straße beschimpft.
Hier werden Anzeigen für Wohnungen geschaltet, in denen es heißt: keine Tiere, keine Russen, keine Belarussen. Europäer und Amerikaner müssen jetzt verstehen: Die Russen und Belarussen, die ihre Länder gerade verlassen, sind meistens in der Opposition. Ihnen zu helfen, ist wichtig. Sie sind diejenigen, die ein zivilisiertes, offenes Russland wollen.
- Video-Telefonat mit Maria Kuznetsova am 17. März 2022