Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Selenskyj-Rede im Bundestag Die Putin-Wut darf keinen Atomkrieg auslösen
Wolodymyr Selenskyj kritisiert im Bundestag das Zögern der deutschen Politik – und hat damit völlig recht. Trotzdem darf Deutschland nun nicht kopflos handeln.
Unmenschlich, verbrecherisch, abgrundtief böse. Nach drei Wochen gibt es viele passende Beschreibungen für den Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine. Russland bringt so viel Leid über die ukrainische Bevölkerung, dass diese Ungerechtigkeit auch einen großen Teil der Menschen in Deutschland wütend macht. Und eines steht jetzt schon fest: Putin muss und Putin wird dafür bezahlen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat diese Emotionen angesprochen, seine Rede im Bundestag war ein historischer Moment. Er kritisierte eine zögerliche deutsche Politik, die bei Maßnahmen gegen das russische Regime zu oft gebremst hat. Es ist eine Kritik, die den deutschen Politikern moralisch wehtut. Weil sie wahr ist.
Selenskyj hat auch recht mit seiner Kritik, Deutschland habe sich zu abhängig von russischen Rohstoffen gemacht. Die deutsche Naivität gegenüber Putin hat schwere Folgen. Das anzuerkennen, ist ebenso schmerzhaft wie wichtig. Die Fehler der Vergangenheit können aber nicht mit neuen kapitalen Fehlern in der Gegenwart wettgemacht werden. Einige aktuelle Diskussionen sind deshalb unsinnig.
Berechtigte Kritik an Deutschland
Aber der Reihe nach: Selenskyj muss natürlich Emotionen und Moral ansprechen, wenn er im Westen für mehr Unterstützung wirbt. Das ist legitim und sein stärkstes Mittel. Im Bundestag benutzte er dafür das Bild einer "Mauer", die Europa in freie und unfreie Staaten trenne. Auch seine Verweise auf die ukrainischen Opfer im Zweiten Weltkrieg und den russischen Angriff auf die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew bewegen die Menschen in Deutschland aufgrund unserer Geschichte besonders.
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Es ist auch verständlich, dass die ukrainische Regierung den moralischen Druck auf Deutschland besonders erhöht. Denn es war vor allem die Bundesrepublik, die in den Augen vieler osteuropäischer Staaten die Region mit den Nord-Stream-Pipelines destabilisiert hat. Selenskyj kritisierte, dass Deutschland Bedenken nicht ernst genommen und damit zum jetzigen Krieg beigetragen habe.
Putin darf uns nicht spalten
Zweifellos ließen sich vergangene Bundesregierungen von billigen russischen Rohstoffen blenden und sie unterschätzten die Kaltblütigkeit, mit der Putin seine machtpolitischen Ziele verfolgt. Die Antworten auf diese Fehler müssen nun trotzdem Sinn ergeben. Es ist vollkommen richtig, dass Deutschland schnellstmöglich die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen lösen muss – besser heute als morgen. Aber für eine entschlossene Reaktion gegen Putin braucht es innere Einigkeit.
Das bedeutet: Wenn Deutschland den Gashahn zudreht, müssen die Folgen für die deutsche Bevölkerung von der Politik abgefedert werden. Viele Menschen können nicht einfach etwas sparsamer leben, um auf die explodierenden Energiepreise zu reagieren. Wenn zum Beispiel ein Taxifahrer oder eine Taxifahrerin 100 Prozent mehr für eine Tankfüllung zahlen muss, muss der Staat helfen. Sonst drohen die eigenen Existenzsorgen das Leid der Menschen in der Ukraine zu überlagern. Es entsteht innere Zerrissenheit, auf die Wladimir Putin auch abzielt.
Zu einer verantwortungsvollen Rohstoffpolitik gehört es, Putins Krieg nicht zu finanzieren und die eigene Bevölkerung nicht aus dem Blick zu verlieren. Das geht aber nicht von heute auf morgen.
Eindeutige Strategie mit Augenmaß
Realistisch muss auch die Debatte um weitere Waffenlieferungen bleiben. Die Forderung nach Angriffswaffen ist dabei ziemlich unsinnig. Welche weiteren Waffensysteme soll Deutschland denn liefern? Einen Leopard-2-Panzer oder eine Patriot-Flugabwehr an die Grenze zu stellen, löst kurzfristig kein Problem. Der Umgang mit diesem militärischen Gerät braucht eine monatelange Schulung und die Einbindung dieser Systeme in ein größeres Verteidigungskonzept. Diese Zeit hat die Ukraine nicht.
Außerdem sind die deutschen Waffendepots ohnehin leer. Es fehlt nicht nur an Ausrüstung, sondern auch an Munition für die Bundeswehr. Es ist naiv zu glauben, dass wir noch massenhaft geeignete Waffensysteme in der Hinterhand haben, die etwas bewirken können. Zumal für die ukrainische Kriegstaktik schultergestützte Panzer- und Flugabwehr, die die Bundeswehr bereits geliefert hat, genau die richtigen Waffen sind. Sie haben der russischen Armee große Schäden zugefügt. Diese Unterstützung muss von Deutschland fortgesetzt werden. Wenn das Material ausgeht, dann finanziell.
Auch bei allen anderen militärischen Mitteln ist Augenmaß wichtig. Die Nato kann nicht mit Friedenstruppen in die Ukraine vorrücken und es kann auch keine Flugverbotszone eingerichtet werden, weil das einen direkten Kriegseintritt der Nato zur Folge hätte.
Natürlich ist es nur schwer zu ertragen, wie russische Flugzeuge ukrainische Städte beschießen. Aber wenn Putin seine konventionellen Kräfte ausgeschöpft hat, bleiben ihm am Ende nur biologische Waffen oder Nuklearwaffen. Und wer in der Nato will momentan ernsthaft seine Hand dafür ins Feuer legen, dass Putin nicht so verrückt ist, diese Waffen auch einzusetzen, wenn die Nato in den Krieg eintritt? Niemand tut das, denn alle kennen die russische Doktrin zum Einsatz von Nuklearwaffen.
Ein Atomkrieg verbessert die Lage für die Ukraine nicht. Wer eine Politik der Stärke und der direkten militärischen Konfrontation fordert, blendet das aus.
Kurz: Die Ukraine braucht volle Unterstützung in Form von sinnvollen Waffenlieferungen, weiteren scharfen Sanktionen gegen Russland und der völligen internationalen Isolierung Putins. Die Strategie muss sein, die russische Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen. Aber bei aller berechtigten Wut auf Putin müssen die Mittel rational bleiben, damit am Ende nicht ganz Europa in Trümmern liegt.
- Rede von Wolodymyr Selenskyj vor dem Bundestag