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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Folgen des Ukraine-Kriegs Diese Rede verändert alles
Ein historischer Moment: Olaf Scholz kündigt angesichts der russischen Aggression massive Investitionen in die Bundeswehr an – und verabschiedet sich beinahe im Vorbeigehen von deutschen Lebenslügen.
Wer nur ist dieser Mann da vorne, und was hat er mit Olaf Scholz gemacht?
"Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents", sagt der Mann. Von "Überfall" spricht er, "kaltblütig" nennt er den "Angriffskrieg". Und presst dabei jedes dieser Wörter heraus, als wolle er Wladimir Putin persönlich eins mitgeben, ihm zumindest ein bisschen die Ohren klingeln lassen.
Die Welt ist jetzt eine andere, so heißt es in diesen Tagen oft. Seit heute weiß man: Olaf Scholz ist auch ein anderer, zumindest bis auf Weiteres. Der Bundeskanzler tritt am Sonntag um 11.07 Uhr ans Rednerpult des Bundestages und hält 29 Minuten lang die bislang beste Rede seiner Karriere – und womöglich schon die seiner gesamten Kanzlerschaft.
Normal ist nichts mehr in diesen Tagen
Aufgeweckt, entschlossen, unterbrochen von viel, langem und manchmal stehendem Applaus. Am Sonntag erlebt der Bundestag, Deutschland, ja die Welt, das glatte Gegenteil einer normalen Olaf-Scholz-Rede.
Aber normal ist eben nichts mehr in diesen Tagen. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagt Scholz. "Und das bedeutet, die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."
"Zeitenwende", das sagt sich so leicht dahin. Aber es ist ein gewaltiges Wort, das Entwicklungen meist größer macht, als sie eigentlich sind. Doch für diese Tage im Februar ist das Wort fast zu klein. Dass Wladimir Putin unsere Art zu leben verachtet und als Bedrohung empfindet, wusste man schon lange. Was man nicht wusste, oder zumindest nicht wissen wollte, war, wie weit er wirklich gehen würde. Jetzt weiß man es: sehr, sehr weit.
Und Olaf Scholz' Antwort darauf ist: sehr, sehr weitreichend.
100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr
Mehr als die Hälfte der Rede ist bereits vorbei, als Scholz zu dem Punkt kommt, der für Deutschland die wahre Zeitenwende infolge des Ukraine-Kriegs markiert: Wir werden viel, viel mehr für Rüstung ausgeben. Putin wolle, so Scholz, "die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen. Und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt."
Und weiter: "Wir müssen uns daher fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland? Und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen – heute und in der Zukunft?" Die Antwort des Kanzlers: "Wir werden deutlich mehr investieren müssen in die Sicherheit unseres Landes. Um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen."
Deshalb will die Bundesregierung ein "Sondervermögen Bundeswehr" einrichten und es sogar im Grundgesetz verankern. Der Haushalt des laufenden Jahres werde dafür einmalig 100 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, so Scholz. "Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen." Mal eben 100 Milliarden binnen weniger Tage, nein Stunden. Das ist mehr als nur bemerkenswert: Denn bei der Bundeswehr wurde bis vor Kurzem noch über ein paar Millionen Euro mehr oder weniger gestritten.
Nicht alles historisch, aber sehr bedeutend
Das zeigt, wie fundamental sich die Zeiten geändert haben. Schließlich wurde ein Schreckensszenario wahr: dass der Frieden in Europa eben doch nicht gesichert ist. Deshalb macht die aktuelle Bundesregierung nun das, was zu lange verschleppt wurde: Sie bekennt sich nicht nur zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato, sondern kündigt an: "Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren."
Auch darüber hinaus kündigt Scholz Dinge an, die vielleicht nicht historisch, aber doch sehr bedeutend sind: Um unabhängiger von russischen Gasimporten zu werden, sollen nach langem Streit nun gleich zwei Flüssiggasterminals in Deutschland gebaut werden. "Wir werden umsteuern, um unsere Abhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden." Das klingt vielleicht klein, ist für Deutschland aber sehr groß.
Das Ende deutscher Lebenslügen
Scholz skizziert auch, worum es aus seiner Sicht in der EU künftig mehr denn je gehen soll: "Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann. Sondern zu fragen: Was ist die beste Entscheidung für unsere Union?" Denn die Herausforderung sei es nun, "die Souveränität" der EU "nachhaltig und dauerhaft zu stärken".
Und fast im Vorbeigehen verabschiedet sich Scholz auch noch von einer der Lebenslügen deutscher Diplomatie, dass es nämlich im Zweifel alle so gut meinen wie wir und zumindest mehr oder weniger rational handeln. "So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein – dieser Anspruch bleibt", sagt Scholz. "Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch: kein Reden um des Redens willens." Für echten Dialog brauche es eben die Bereitschaft auf beiden Seiten. Daran mangele es Putin "ganz offensichtlich – und das nicht erst in den letzten Tagen und Wochen".
So viel Veränderung in so kurzer Zeit war selten.
Große Veränderungen kommen von außen
Scholz macht nun die Erfahrung, die fast jeder Kanzler macht: Die eigentliche Prüfung im Amt besteht nicht darin, was man in Wahlkämpfen versprochen oder in Koalitionsverträge geschrieben hat. Nein, es sind jene Aufgaben, die von manchen verdrängt und anderen nicht einmal gesehen wurden.
In seltenen Fällen ergibt sich aus einem historischen Umbruch für den Amtsinhaber die Chance seines Lebens. Der Sturz von Helmut Kohl war in der CDU bereits geplant, als in der DDR und in Osteuropa die Freiheit triumphierte – und der instinktsichere Kanzler ahnte, dass sich dadurch fast alles verändern würde.
Aber auch das ist eben eine Regel: Die großen internen Veränderungen werden einem von außen aufgezwungen. Gerhard Schröder war erst ein paar Monate im Amt und das rot-grüne Bündnis noch immer ein wenig von seinem unerwartet klaren Erfolg bei der Bundestagswahl beschwipst, als er sich im März 1999 an die Nation wandte und Nato-Luftschläge gegen Jugoslawien ankündigte.
Die deutsche Beteiligung an diesem Krieg war für die pazifistische SPD schwierig genug, die aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Grünen zerriss der Druck von außen beinahe. Nichts symbolisiert diese missliche Lage so plastisch wie jener Farbbeutel, der beim Parteitag im Mai 1999 ins Gesicht des damaligen Außenministers Joschka Fischer geschleudert wurde.
Wie brutal die Realpolitik ist, musste die Regierung Schröder zwei Jahre später erneut erfahren. Nach den Anschlägen vom 11. September sicherte der Kanzler den USA die "uneingeschränkte Solidarität" Deutschlands zu.
Als der Antiterroreinsatz gegen die Taliban kurz darauf begann, wollte die Berliner Regierung beweisen, dass sie es tatsächlich ernst meint. Weil es intern allerdings großen Widerstand gegen eine deutsche Beteiligung gab, nutzte Schröder das stärkste Druckmittel, über das ein Kanzler im Bundestag verfügt: Er verband die Abstimmung mit der Vertrauensfrage.
Der Vorteil der Demokratie
Angela Merkel verzichtete in den 16 Jahren ihrer Amtszeit auf dieses Instrument. Aber auch für ihre vier Regierungen galt: Keine der großen Krisen tauchte vorher irgendwo auf, keine der Folgen war vorausgedacht.
Entsprechend unvorbereitet traf es die Regierung jedes Mal: Ob es der Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 war, der zuerst die Finanz-, später die Euro- und Schuldenkrise auslöste. Ob es die Atomkatastrophe von Fukushima war, die zum überstürzten Ausstieg aus der Atomenergie führte. Ob es jene Flüchtlinge waren, die sich im September 2015 von Budapest Richtung Deutschland aufmachten und die Kanzlerin dazu veranlassten, die Grenzen nicht zu schließen. Oder ob es das Virus war, das die schlimmste Pandemie seit rund 100 Jahren auslöste.
Die Beispiele von Kohl, Schröder und Merkel zeigen aber auch: Nur, weil niemand wirklich auf eine große Krise vorbereitet ist, entsteht nicht gleich Chaos. Es braucht immer seine Zeit, bis sich die Politik an die neue Realität anpasst, aber sie tut es.
Denn genau das ist ja auch der Vorteil der Demokratie: Sie bewegt sich zwar langsam, verhindert dadurch aber auch erratische Entscheidungen. Wozu Alleinherrschaft ohne Widerspruch führt, beweist in diesen Tagen Wladimir Putin einmal mehr.
Und der Kremlherrscher hat nun eben auch Olaf Scholz und die Ampelkoalition zu einer kompletten Schubumkehr veranlasst. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP ist schon jetzt teils Makulatur.
Immerhin: Die Maskenpflicht bleibt
Wie veränderungsfähig demokratisch organisierte Politik ist, zeigt sich auch daran, dass Deutschland große Krisen gern dafür nutzt, große Lebenslügen abzuräumen. Olaf Scholz hat am Sonntag das langjährige Prinzip "Wir sparen die Bundeswehr kaputt, weil uns im Zweifel ja die Amerikaner retten" einfach von jetzt auf gleich abgeräumt.
Und steht damit in bester Kanzlertradition: Wir können als eine der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt so tun, als gingen uns internationale Konflikte nichts an? Nein, also weg damit. Wir glauben, der Euro könne weiter bestehen, wenn das stärkste Glied in der Kette die schwächeren nicht unterstützt? Funktioniert ja nicht. Wir halten an der Überzeugung fest, Deutschland sei kein Einwanderungsland? Ach komm, das glaubt doch niemand mehr.
Keine Frage: So schnell wie die Ampel ist wohl noch nie eine Regierung in Deutschland in der brutalen Realität angekommen. Aber die aktuelle Koalition hat eben auch bewiesen, dass sie sich den neuen Gegebenheiten anpasst. So wurden am Samstag Waffenexporte plötzlich doch möglich. Und harte Sanktionen gegen Russland auch. Und so vollzog die Regierung am Sonntag einen Hauruck-Schwenk in der Außen- und Sicherheitspolitik.
In diesen Tagen verändert sich alles so abrupt, dass die große Krise der vergangenen zwei Jahre fast schon vergessen scheint. Auch beim Kanzler: Als er nach seiner Rede auf seinen Platz zurückgekehrt ist, vergisst er für einen Moment, wieder seine Maske aufzusetzen. Die Bundestagspräsidentin muss ihn ermahnen. Er lächelt.
Mag sich auch sonst fast alles verändern, die Maskenpflicht bleibt. Zumindest vorerst.
- Eigene Recherchen