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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neue Regierung in Israel "Sprengstoff wird in dieser Koalition immer da sein"
Die zweite Amtszeit von Benjamin Netanjahu als israelischer Ministerpräsident könnte heute enden. Eine politisch bunte Koalition mit einer hauchdünnen Mehrheit will ihn aus dem Amt drängen. Kann das gut gehen?
Benjamin Netanjahu geizt in diesen Tagen nicht mit harter Kritik. Der "größte Wahlbetrug der Geschichte" erlebe sein Land gerade. Vor einer "dunklen Diktatur" warnt seine Likud-Partei auf Twitter: Die neue Regierung plane Gesetze, die persönlich auf den Regierungschef abzielen und an Nordkorea oder den Iran erinnern.
Der längste amtierende Ministerpräsident in der Geschichte Israels stemmt sich mit aller Macht gegen sein Aus. Doch nun könnte seine zweite Amtszeit ein Ende finden. Eine "Koalition des Wandels" aus acht Parteien will ihn aus dem Amt treiben, der Koalitionsvertrag ist unterzeichnet, die Vereidigung steht kurz bevor.
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"Man sieht, dass wirklich viele Menschen in Israel Hoffnungen in diese Koalition setzen", sagt Stephan Stetter von der Professur für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr in München. Er spricht von einer "Mosaikkoalition": Man habe zwar kaum politische Gemeinsamkeiten, sei aber geschlossen um eine Absetzung Netanjahus bemüht gewesen.
Persönliche Fehden führen zu neuen Verbündeten
Angeführt wird dieses neue Bündnis von Jair Lapid: Der Vorsitzende der liberalen Partei Jesch Atid schmiedete in langen Verhandlungen eine Koalition, die es so in Israel noch nicht gegeben hat. Das Bündnis reicht von Rechtskonservativen über Lapids Liberale bis hin zu linken Parteien. Dazu kommt die islamistische Partei Ra’am, mit der erstmals auch eine arabische Partei in die Regierung eintreten könnte.
Dass dieses ungleiche Bündnis überhaupt eine Chance hatte, hat viel mit den handelnden Personen zu tun: Zu der Koalition zählen drei rechtskonservative Parteien (Jamina, "Unser Zuhause Israel", "Neue Hoffnung") die politisch größere Schnittmengen mit dem Likud von Netanjahu besitzen. Doch bei den drei Parteichefs handelt es sich um ehemalige Likud-Mitglieder, die sich vom Ministerpräsidenten abgewandt haben. "All diese Leute sind unter Netanjahu nicht vorangekommen", sagt Stephan Stetter.
Regierung soll aufräumen
Diese Mischung führt dazu, dass einzelne Gruppen mitunter völlig gegensätzliche politische Ziele verfolgen: Während die arabische Ra’am-Partei den israelischen Siedlungsbau im Westjordanland vollständig ablehnt, setzt sich die nationalreligiöse Jamina-Partei von Naftali Bennett für einen weiteren Ausbau ein. Die Koalition versucht deswegen viele Themenkomplexe auszuklammern, in denen keine Einigung möglich scheint.
"Sie haben die Aufgabe aufzuräumen", sagt Lidia Averbukh von der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Regierungsprogramm der Koalition. Vier Parlamentswahlen in zwei Jahren hätten dazu geführt, dass das Land in Bereichen stagnierte, die politisch kaum für Zündstoff sorgen: Seit 2018 wurde etwa kein neuer Haushalt mehr beschlossen. Eine Strategie für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie sei genauso erforderlich. Auch im Wohnungsbau und der Infrastruktur sieht Averbukh wenig Konflikte.
Spannungen bleiben trotzdem
Außenpolitisch sind die Erwartungen dagegen gering. Laut Stetter will niemand Risiken eingehen, Druck für neue Friedensgespräche sei von der internationalen Gemeinschaft nicht zu erwarten. Der Iran sei momentan mehr mit einem neuen Atomabkommen als mit Israel beschäftigt. Die Konflikte in den Palästinensergebieten seien ungelöst, aber trotz der letzten Gefechte unter Kontrolle: "Der Status Quo ist schlecht, aber er wird auch die nächsten Jahre noch funktionieren."
Doch können die Parteien jeden Streit vermeiden? "Sprengstoff wird in dieser Koalition immer da sein", glaubt Stetter. Vor allem die Ra’am-Partei ist von Bedeutung. Deren Parteichef Mansour Abbas wird laut Stetter wohl weniger außenpolitisch in Erscheinung treten. "Es könnte aber Probleme geben, wenn sich Ra’am bei Konflikten mit den Palästinensern positionieren müsste", glaubt Lidia Averbukh. Die erste Prüfung könnte bereits am Dienstag warten: Mit einem Flaggenmarsch wollen nationalistische Israelis durch Jerusalem ziehen. Die Route führt auch durch muslimische Viertel der Altstadt und könnte von den Palästinensern als Provokation aufgefasst werden.
Netanjahu macht weiter Druck
Hinzu kommt, dass die Regierung nur eine hauchdünne Mehrheit besitzt: Zusammen kommt man auf 61 von 120 Sitzen in der Knesset. Netanjahu und seine Anhänger übten deshalb seit Tagen Druck auf Abgeordnete aus, um das Bündnis noch zum Scheitern zu bringen. Allerdings haben die Parteichefs mehrere Mechanismen zur Stabilisierung eingeplant: Im Gespräch ist etwa, dass ein Ministerpräsident künftig nach zwei Legislaturperioden eine weitere aussetzen muss, ehe er erneut kandidieren darf. "Man will zeigen, dass es sich für Netanjahu nicht lohnt, an der Koalition zu rütteln", sagt Averbukh.
Zusätzlich wird die Amtszeit als Ministerpräsident geteilt: Die ersten beiden Jahre soll nicht Jair Lapid, sondern der nationalreligiöse Naftali Bennett das Amt übernehmen. Sollte der dann auf die Idee kommen, doch noch mit Netanjahus Likud-Partei eine neue rechte Regierung zu bilden, dürfe Bennett ihr nicht mehr angehören. "Die Koalitionsparteien sind sehr daran interessiert, dass diese Regierung möglichst lange Bestand hat", glaubt Averbukh. Im Gespräch ist auch, die Amtszeit des Ministerpräsidenten generell auf acht Jahre zu begrenzen.
Der Druck auf die neue Regierung ist aber schon vor der Vereidigung immens: Aufgebrachte Anhänger Netanjahus hatten vor den Häusern von Abgeordneten demonstriert. Vor allem Bennett, bereits Verteidigungs- und Bildungsminister unter Netanjahu, steht im Zentrum der Anfeindungen. Zuletzt warnte der Chef des Inlandgeheimdienstes Shin Bet, die Hetze könne in Gewalt umschlagen. Bennett wird seit mehr als einer Woche von dem Geheimdienst beschützt, der sich für gewöhnlich nicht zur Tagespolitik äußert.
Bleibt die Frage, was aus Benjamin Netanjahu wird. Der 71-Jährige muss sich weiter vor Gericht verantworten. Wegen Korruption, Untreue und Betrugs drohen ihm mehr als zehn Jahre Haft. Gleichzeitig hat er angekündigt, im Falle seiner Abwahl als Oppositionsführer in der Knesset zu bleiben. Für die Regierenden könnte das ein Vorteil sein, glaubt Stephan Stetter: "Je länger Netanjahu politisch aktiv bleibt, desto stabiler wird diese Koalition sein." Mit Kritik an der Regierung wird er dann vermutlich erst recht nicht geizen.
- Eigene Recherchen
- Interview mit Stephan Stetter am 10.6.2021
- Interview mit Lidia Averbukh am 10.6.2021
- Nachrichtenagentur dpa, AFP und Reuters