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100 Tage nach Brexit: Sind die Briten die großen Gewinner des EU-Austritts?


100 Tage nach EU-Austritt
Sind die Briten die großen Brexit-Gewinner?

Von dpa
Aktualisiert am 11.04.2021Lesedauer: 5 Min.
Boris Johnson besucht einen Vergnügungspark: Die britische Regierung ist bemüht, 100 Tage nach dem EU-Austritt, den Brexit als Erfolg zu verkaufen.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson besucht einen Vergnügungspark: Die britische Regierung ist bemüht, 100 Tage nach dem EU-Austritt, den Brexit als Erfolg zu verkaufen. (Quelle: ap-bilder)

Am 10. April ist es 100 Tage her, dass Großbritannien aus der EU ausgetreten ist. Nach langem Ringen einigte man sich auf ein Abkommen. Doch wer hat davon am meisten profitiert? Ein Überblick.

Der Abgesang war feierlich. Man schwor sich, Freunde zu bleiben. Aber knapp 100 Tage nach Abschluss des Brexits gibt es gute Gründe anzunehmen, dass zwischen der Europäischen Union und Großbritannien eine dauerhafte und bisweilen bittere Rivalität wächst. Die Wochen seit dem endgültigen Bruch zu Jahresbeginn waren jedenfalls alles andere als harmonisch.

Die britische Regierung nutzt jede Gelegenheit, den Brexit als Erfolg zu feiern, und sie zieht politische Vorteile aus der Abgrenzung vom verpönten Club der 27. Das geht bis zu kleinlichen Sticheleien wie der Weigerung, dem EU-Botschafter in London die volle Anerkennung als Diplomat zu gewähren. Für Stirnrunzeln sorgte auch, dass der britische Premier Boris Johnson den für seine konfrontative Herangehensweise bekannten Unterhändler der Austrittsgespräche, David Frost, als obersten Brexit-Beauftragten ins Kabinett berief.

Die EU wirkt in der Corona-Pandemie ihrerseits angeschlagen und will im Streit mit Großbritannien Härte zeigen. Über allem liegt eine Atmosphäre des Misstrauens und gegenseitiger Vorwürfe.

Die kalte Dusche nach dem Deal

Erst sieben Tage vor dem endgültigen Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion gelang Unterhändlern beider Seiten an Heiligabend 2020 der Brexit-Handelsdeal – offiziell genannt Handels- und Kooperationsabkommen. Die Erleichterung war groß, das befürchtete No-Deal-Chaos abgewendet.

Trotzdem war der Neustart der wirtschaftlichen Beziehungen am 1. Januar 2021 für viele eine kalte Dusche. Zollformulare, Kontrollen, Herkunftsnachweise, Auflagen für den Import von Lebensmitteln und frischen Fisch, Genehmigungen, Formulare, Einfuhrumsatzsteuer - ein Papierkrieg, der viele Händler und Verbraucher unvorbereitet traf. Kein Wunder, schließlich behauptete Johnson noch an Heiligabend, das Abkommen habe jegliche Handelshindernisse beseitigt. Doch für Januar meldete das britische Statistikamt ONS einen Absturz der Exporte in die EU um 40,7 Prozent; die Importe aus der EU brachen um 28,8 Prozent ein.

Experten überrascht das nicht. Das Abkommen "ist offenkundig ein dünner Deal im Vergleich zur vollen EU-Mitgliedschaft oder ehrgeizigeren Partnerschaftsmodellen, insbesondere zur Mitgliedschaft im Binnenmarkt und/oder zur Zollunion", analysiert das European Policy Centre in Brüssel. Noch in zehn Jahren sollen die britischen Exporte in die EU Prognosen zufolge um rund 36 Prozent niedriger liegen als bei einer weiteren britischen EU-Mitgliedschaft.

Der britische Impftriumph – die EU zieht den Kürzeren

Die wirtschaftlichen Nachteile des Bruchs mit dem europäischen Binnenmarkt sind also offensichtlich, aber irgendwie scheint das die Briten kaum zu stören und Johnson kaum zu schaden. Dem britischen Premier gelang unmittelbar nach dem vollendeten Brexit der ultimative Triumph: Beim Impfen gegen Covid-19 hängte Großbritannien die EU meilenweit ab. Beinahe vergessen scheint darüber, dass die Regierung in London bis dahin eine klägliche Figur in der Pandemie abgegeben hatte. Mit knapp 150.000 Sterbefällen, die mit Covid-19 in Verbindung gebracht werden, ist das Land eines der am schwersten betroffenen in Europa. Doch mehr als 31 Millionen Erstimpfungen und niedrige Fallzahlen lassen Licht am Ende des Tunnels erkennen.

Die EU feierte am 27. Dezember zwar noch mit viel Pathos den gemeinsamen Impfstart der 27 Staaten. Doch dann folgten wochenlanges Gezänk, Rückschläge, Schuldzuweisungen. Zu wenig Impfstoff, zu langsames Impfen, ungerechte Verteilung. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen musste schließlich Fehler einräumen – genau an den Stellen, die Großbritannien anders geregelt hatte: "Wir waren spät dran bei der Zulassung. Wir waren zu optimistisch bei der Massenproduktion." Der Punkt ging an Johnson.

Impfstoffstreit versus Impfstoffkrieg?

Aber von der Leyen wies nicht zu Unrecht darauf hin, dass das britische Impfwunder undenkbar gewesen wäre ohne Impfstoffe aus der EU. Seit dem 1. Dezember seien mehr als 21 Millionen Dosen auf die Insel gegangen, umgekehrt sei aber fast nichts von dort gekommen, betonte die EU-Kommission Ende März und nahm dies zur Begründung für verschärfte Exportkontrollen.

Vor allem der britisch-schwedische Hersteller Astrazeneca ist im Visier. Das Unternehmen hat die Zusagen an die EU einseitig drastisch gekürzt – von ursprünglich 300 Millionen Impfdosen auf nur noch 100 Millionen im ersten Halbjahr –, liefert aber anscheinend reibungslos an Großbritannien. "Unser Vertrag übertrumpft deren", erklärte das der britische Gesundheitsminister Matt Hancock kürzlich.

Nun kam die Ansage aus Brüssel: Astrazeneca soll nicht mehr exportieren, bis nicht die EU-Verträge erfüllt sind. Sofort erboste Reaktionen aus London, dessen Impfkampagne durch einen Exportstopp Indiens bereits verlangsamt wurde. Inzwischen verhandeln die EU und Großbritannien über eine längerfristige Zusammenarbeit beim Impfen. Ausgang offen.

Nordirland – Die offene Flanke

Die Impfhysterie in der EU war auch der Hintergrund für ein politisches Desaster Ende Januar: Im Zuge der Impfstoff-Exportauflagen erwog die EU-Kommission vorübergehend, den Export von Impfstoffen aus dem EU-Staat Irland ins britische Nordirland zu überwachen. Sie nahm das zwar innerhalb von Stunden zurück, aber der Schaden war angerichtet. Die Grenze zwischen den beiden Teilen Irlands ist ein sehr heikles Thema. Jahrelang hatte sich Brüssel bei den Austrittsgesprächen dafür eingesetzt, dass trotz des Brexits alles beim Alten bleibt, um den Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion zu wahren – nun schien die Kommission diese Grundsätze bei der erstbesten Gelegenheit über Bord zu werfen.

Die britische Regierung nahm das zum Vorwand, das sogenannte Nordirland-Protokoll im EU-Austrittsvertrag, das die Provinz de facto dem Handelsraum der EU zuschlägt, auseinanderzupflücken und teilweise auszusetzen. Brüssel reichte Klage ein. Die der EU ohnehin kritisch gegenüberstehende Co-Regierungschefin Nordirlands, Arlene Foster von der protestantisch-unionistischen DUP, forderte, das Protokoll komplett zu kippen. Die Spannungen in Nordirland sind deutlich erhöht, seit Tagen liefern sich Großbritannien-Loyalisten nächtliche Straßenschlachten mit der Polizei.

Wie geht es weiter?

Beide Seiten haben es nach 47 gemeinsamen Jahren schon binnen weniger Wochen geschafft, sich gegenseitig Vertragsbruch, Nationalismus und Feindseligkeit vorzuwerfen, und das, obwohl sie weiter aufeinander angewiesen sind. Der Handelspakt ist auf EU-Seite noch nicht ratifiziert - er wird wegen der Last-Minute-Einigung nur vorläufig angewendet - und das Europaparlament knüpft seine Zustimmung nun an eine Schlichtung des Nordirland-Streits.

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Wie ernsthaft die Drohung ist, bleibt offen, aber für gute Stimmung spricht sie nicht. Unklar ist auch weiter der EU-Zugang für britische Finanzdienstleistungen. Beim Impfstoff ist die EU ihrerseits von Rohstoffen aus britischen Fabriken abhängig.

Eine Eiszeit ist also eigentlich keine Option, aber ein Ende des Gezeters ist auch nicht in Sicht. "Die Beziehungen Großbritanniens zu Europa werden absehbar holprig bleiben, bis die Tage der Souveränitäts-Fetischisten des Brexits gezählt sind", meint der ehemalige britische Europaabgeordnete Andrew Duff. "Aber ihre Zeit wird irgendwann vorbei sein." Duff datiert dieses Irgendwann auf die Zeit nach der britischen Wahl 2024.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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