Impfplan in Großbritannien Boris Johnson wird als "Mr. Jab" zum Corona-Held
Lange wurde Boris Johnson für sein Management in der Corona-Krise kritisiert. Mit seinem Impfprogramm ist der britische Premierminister nun "all in" gegangen
Wer hören will, was für eine Freude eine Impfung gegen das Coronavirus ist, muss nur Boris Johnson zuhören. Kaum jemand spricht das Wörtchen "jab" –englisch für Impfung – so lustvoll aus wie der britische Premierminister. In seiner Betonung hat das kleine Wort geradezu beflügelnde Wirkung. Und Johnson spricht oft von "jabs", denn die Impfkampagne, die seit zweieinhalb Monaten läuft, bestimmt die Schlagzeilen. Mittendrin: Boris Johnson. Oder auch: "Mr. Jab".
Der Populist ist ganz in seinem Element, die Ärmel hochgekrempelt und Ellenbogen-Begrüßungen verteilend. "Fit wie ein Metzgershund" sei er, wird Johnson nicht müde zu betonen. Seine Beliebtheit bleibt hoch. "Die Menschen mögen ihn, weil er so optimistisch wirkt", sagt Jill Rutter von der Denkfabrik Institute for Government. "Er wirkt, als würde man gern mit ihm in den Pub gehen. Er nimmt sich selbst nicht ernst." Das kommt an.
"Data, not dates" – das Motto für den "Unlockdown"
Nun aber heißt es: Kumpelmodus aus, Staatslenker an. Im Parlament verkündet der Premier, wie der Ausstieg – der "Unlockdown" – aus dem bereits dritten Lockdown vonstatten gehen soll. Umsichtig – fast könnte man sagen: staatsmännisch – geht Johnson vor. Auf wissenschaftliche Daten werde er hören, nicht auf Termine: "Data, not dates".
Vier Stufen kündigt der Premier an, jeweils im Abstand von fünf Wochen – wenn die Infektionszahlen mitspielen. Die Botschaft: Bis Ende Juni soll alles vorbei sein. Diese Entscheidung sei zwar "vorsichtig", aber auch "unwiderrufbar", sagt Johnson. "Wir machen uns auf einen Weg, von dem ich hoffe und glaube, dass es eine Einbahnstraße in die Freiheit ist, und diese Reise wird durch das Tempo des Impfprogramms ermöglicht." Mittlerweile hat ein Drittel der Erwachsenen bereits die erste Dosis erhalten. Täglich kommen Hunderttausende hinzu.
Die Erwartungen waren hoch: "Lös' endlich die Bremsen, Boris", titelte die "Daily Mail". Auch Teile seiner konservativen Partei sitzen Johnson im Nacken, sie forderten schnellere Öffnungen. Mit der "unwiderrufbaren" Planung wolle für einen langsamen Ausstieg verkaufen, sagt Rutter.
Der Politologe Simon Usherwood glaubt, der Premier gehe ein hohes Risiko ein. "Er kann das ja wollen, aber er hat keine Möglichkeit, das zu kontrollieren", sagt Usherwood. "Es muss nur eine neue Variante auftauchen, die immun gegen einen Impfstoff ist, und wir bekommen eine neue Corona-Welle." Und Großbritannien müsste wohl zum vierten Mal in den Lockdown. Doch auch Kritiker betonen, dass Johnson derzeit obenauf ist. Beim Erfolg des Impfprogramms sei durchaus Glück im Spiel, sagt Usherwood. Allerdings habe sich der Schachzug ausgezahlt, wie beim Poker "all in" zu gehen.
Ein Interview als Tiefpunkt
Alle Impf-Entscheidungen, die Johnson getroffen hat – und die teils für Kritik sorgten –, haben sich bisher als richtig erwiesen: sowohl der frühe Start Anfang Dezember nach einer Sonderzulassung für das Mittel der Pharmaunternehmen Biontech und Pfizer als auch die längere Zeitspanne zwischen den beiden Impfungen.
Dabei galt lange als äußerst unwahrscheinlich, dass aus Johnson einmal der gewissenhafte "Mr. Jab" werden würde. Zu hemdsärmelig, zu unbedarft, zu erratisch war der Premier seit Beginn der Pandemie aufgetreten – und fand monatelang kein rechtes Maß. Versprochen, gebrochen: Immer wieder musste Johnson Versprechen zurücknehmen und härtere Maßnahmen durchsetzen als von ihm selbst angekündigt.
Nur selten wirkte die Regierung, als sei sie auf der Höhe der Dinge. Als Tiefpunkt gilt ein völlig misslungenes Interview mit der BBC Anfang Januar. Darin verteidigte der Premier vehement, dass am kommenden Tag die Schulen geöffnet werden. Und musste gut 24 Stunden später zurückrudern – nach einem Tag wurden die Schulen wieder geschlossen.
Johnsons "lange Lernkurve"
"Man muss berücksichtigen, dass er sehr unerfahren war, als er ins Amt kam", sagt Rutter. Zwar habe Johnson als Londoner Bürgermeister und Außenminister bereits Verantwortung getragen, doch der Job in 10 Downing Street sei damit nicht vergleichbar. Hinzu kommt: Seit Amtsantritt im Juli 2019 war Johnson vollauf mit dem Brexit beschäftigt und mit der Parlamentswahl, die er mit großem Vorsprung gewann. Er habe bis zum Beginn der Pandemie keine Zeit gehabt, richtig im Amt anzukommen. "Er war das Gegenstück zu Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer jahrelangen Erfahrung."
Inzwischen hat auch Johnson Erfahrung gesammelt. "Es wird nun weiter vorausgedacht", hat Rutter erkannt. Sie attestiert dem Premier eine "lange Lernkurve". Das kann auch mit den Beratern zu tun haben, mit denen sich Johnson nun umgibt. Seit Ende November ist der Wirtschaftsexperte Dan Rosenfield sein Stabschef – er löste den landesweit verhassten Dominic Cummings ab, einen mächtigen Brexit-Befürworter, der als entscheidender Strippenzieher im Regierungssitz galt. Disziplinierter sei der Entscheidungsprozess in "Number 10" seither, sagt Rutter.
Leidtragende ist die Opposition. Trotz des monatelangen Herumgestolperes der Regierung in der Pandemie hat sich die Labour-Partei in Umfragen keinesfalls an Johnsons Konservativen vorbeidrängen können. "Meine Mutter interessiert sich nur dafür, wann sie geimpft wird", zitierte das Online-Portal "Politico" einen Labour-Politiker jüngst. Zumal Labour die strikten Corona-Maßnahmen unterstützt. Rutter sagt: "Eine Opposition gewinnt, weil die Leute der Regierung überdrüssig sind und nicht wegen ihres Programms."
- Nachrichtenagentur dpa