Brexit-Streit Brexit: Bitterer Streit schmälert Chancen auf Handelspakt
London/Brüssel (dpa) - Die EU-Kommission hat Großbritannien am Donnerstag ultimativ aufgefordert, Pläne zur Änderung des gültigen Austrittsabkommens bis spätestens Ende September zurückzuziehen. Vom britischen Staatsminister Michael Gove kam prompt eine Absage.
Die Verhandlungen über den für 2021 geplanten Handelspakt stecken ebenfalls fest. Es blieben "erhebliche Unterschiede", erklärte EU-Unterhändler Michel Barnier am Abend. Die EU will nun die Vorbereitungen für einen "No Deal" intensivieren.
Der britische Premierminister Boris Johnson hatte Brüssel diese Woche mit dem Plan für ein "Binnenmarktgesetz" alarmiert, das den 2019 mit der EU vereinbarten und später auch ratifizierten Austrittsvertrag aushebeln würde. Dabei geht es um Sonderregeln für das britische Nordirland, die eine harte Grenze zum EU-Staat Irland und neue Feindseligkeiten verhindern sollen. Brexit-Befürwortern sind sie ein Dorn im Auge, weil Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs abgekoppelt werden könnte.
Kommissionsvize Maros Sefcovic sagte nach Gesprächen mit Gove in London, mit den Gesetzesplänen habe die britische Regierung das Vertrauen der Europäischen Union ernsthaft beschädigt. Sollte das Gesetz in der von London geplanten Form in Kraft treten, wäre dies "eine extrem ernste Verletzung des Austrittsabkommens und von internationalem Recht", warnte Sefcovic. Die Verhandlungen über den Handelsvertrag würden damit in Gefahr gebracht. Gove reagierte jedoch postwendend mit der Ansage, seine Regierung "werde und könne" das geplante Binnenmarktgesetz nicht zurückziehen.
Eigentlich wollten beide Seiten diese Woche in der bereits achten Verhandlungsrunde endlich weiterkommen auf dem Weg zu einem Handelsvertrag. Denn in weniger als vier Monaten endet die Übergangsfrist nach dem britischen EU-Austritt im vergangenen Januar - ohne Vertrag droht ein harter wirtschaftlicher Bruch. Doch auch bei den parallel zu dem Streit über das Binnenmarktgesetz laufenden Verhandlungen ging aus Sicht der EU wieder nichts voran.
Der britische Chef-Unterhändler David Frost gab sich am Abend dennoch optimistisch: "Wir sind weiterhin bestrebt, hart an einer Einigung bis Mitte Oktober zu arbeiten." Anders klang das bei Barnier: "Erhebliche Unterschiede bleiben bei den Themen, die für die EU von entscheidender Bedeutung sind." Die EU habe sich bei den Roten Linien Großbritanniens flexibel gezeigt, umgekehrt sei dies nicht geschehen.
"Um eine künftige Partnerschaft zu schließen, ist gegenseitiges Vertrauen und Zutrauen nötig und wird es auch künftig sein", erklärte Barnier. Die Verhandlungsteams würden in den nächsten Tagen in Kontakt bleiben. "Gleichzeitig wird die EU ihre Vorbereitungen intensivieren, um für alle Szenarien am 1. Januar 2021 gewappnet zu sein."
Tatsächlich sind die Chancen auf einen Handelspakt wohl weiter gesunken. Aber Brüssel rätselt über Johnsons Verhalten. Meint der Premier das ernst mit Änderungen an einem gültigen Vertrag? Was treibt den innenpolitisch angeschlagenen Premier? Lenkt er, wie schon im vergangenen Jahr, in letzter Minute ein? Oder will er tatsächlich zum Jahresende den großen Knall - mit allen negativen Folgen. Wirtschaftlich wären das Zölle, Lieferschwierigkeiten, Mehrkosten. Politisch wäre es: verlorene Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett.
Trotz Sefcovics klarer Ansage ist die Lage für die EU heikel. Sie will mit dem Handelsvertrag gleiche Wettbewerbsbedingungen mit dem Ex-Mitglied vor der Haustür festschreiben, Zölle vermeiden, ihre Fischereirechte in britischen Gewässern sichern und Dutzende Fragen regeln. Und Brüssel will nicht den Schwarzen Peter, falls dies scheitert. Andererseits will die EU keinen neuen Vertrag mit einem Partner schließen, der die alten Vereinbarungen nicht einhält.
Dass Vertragstreue unentbehrlich ist, hält nicht nur die EU der britischen Regierung vor. Der frühere Parteivorsitzende der Konservativen Partei, Michael Howard, fragte bissig im britischen Oberhaus: "Wie können wir Russland, China oder dem Iran Vorwürfe machen, dass ihr Verhalten nicht international anerkannten Standards entspricht, wenn wir so wenig Respekt für unsere vertraglichen Verpflichtungen zeigen?"
Gewichtiger noch dürfte die Mahnung aus dem Mund der Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sein: Sollte die britische Regierung Völkerrecht brechen und durch ihren Alleingang die hart errungene Stabilität in Nordirland gefährden, hätte ein Handelsvertrag mit den USA "absolut keine Chance" im Kongress, sagte sie der Zeitung "The Irish Times".
Die deutsche Wirtschaft stimmt in den Tenor ein. "Für das Zustandekommen eines Freihandelsabkommens mit der EU ist Vertragstreue beim völkerrechtlichen Austrittsabkommen unabdingbar", sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Joachim Lang. Die Hoffnung auf einen Handelspakt schwinde auf ein "absolutes Minimum", klagte der Maschinenbauverband VDMA.
Bleibt die Frage: Was bezweckt Johnson? Der Brexit-Streit ist keineswegs sein einziges Problem. In Großbritannien steigen die Infektionen mit dem Coronavirus wieder und damit die Sorgen vor einer zweiten großen Ausbruchswelle. Der Regierungschef selbst wirkt nach seiner eigenen Corona-Erkrankung müde - so sehr, dass Gerüchte über einen möglichen vorzeitigen Amtsverzicht kursieren. Alles Quatsch, so Johnson.
Politisch ist er wegen seines Zickzackkurses in der Pandemie unter Druck, die Wirtschaft ist noch schlimmer eingebrochen als anderswo in Europa. Will er ablenken? Den Schaden des Brexits überdecken oder anderen in die Schuhe schieben? Für einige in Brüssel liegt der Verdacht nahe. Aber genau zu lesen vermag niemand den unsteten Partner in London.