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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eskalation der Gewalt in Hongkong "Die Haut brennt, der Hals brennt und meine Augen tränen"
Eigentlich wollte Jeanne Plaumann in Hongkong Urlaub machen. Dort erlebte sie jedoch die Proteste der Demokratiebewegung. Und eine Polizei, die Tränengas ohne jede Rücksicht einsetzt. Ein Erfahrungsbericht.
Am Abend des 8. November herrscht bei einer Trauerveranstaltung in Hongkong gespenstische Stille. Wenige Stunden zuvor war der 22-jährige Student Alex Chow Tsz-lok ums Leben gekommen. Mehrere hundert Menschen stehen um Teelichter versammelt, mit denen "Free HK, R.I.P. Chow" (dt. "Befreit Hongkong, Ruhe in Frieden, Chow") geschrieben wurde. An einem Gitter werden Blumen befestigt. Studenten machen den Großteil der Trauernden aus, aber auch ältere Menschen, und solche, die direkt aus dem Büro hergekommen sind, schließen sich der Veranstaltung an.
Für mich sind die vielen Menschen mit Mundschutz und Masken ungewöhnlich. Auch ganz normale Bürger, die nicht komplett schwarz gekleidet oder vermummt sind, tragen diese. Es entsteht der Eindruck, dass selbst die Zivilbevölkerung, die nicht zwangsläufig an anderen Demonstrationen teilnimmt, der Polizei und der Überwachung durch China nicht mehr traut. Nach der Trauerfeier löst sich die Menschenmenge auf, ganz ruhig, so wie sie gekommen ist.
Noch vor wenigen Tagen war es durchaus möglich, durch die Sonderverwaltungszone, die innerhalb Chinas ein gewisses Maß an Autonomie genießt, zu schlendern, zu shoppen und Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Doch nun ist alles anders.
"Black clads" und Polizisten in Kampfmontur
Als wir nach einem Restaurant suchen, kommen ungefähr 200 komplett schwarz gekleidete, vermummte Demonstranten (in Hongkong als "black clad" bekannt) an uns vorbei und beginnen Straßenbarrikaden zu errichten. Von der Polizei ist zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu sehen. Die Situation ist für mich unübersichtlich und befremdend. Die Gruppe könnte man als Außenstehender durchaus als Mob bezeichnen, aber das ist in Hongkong zu einfach. Hinter den Straßenbarrikaden, die mit zerschlagenen Ampeln und teilweise brennenden Stromkästen einhergehen, stehen fünf Monate Protest gegen die Einflussnahme Chinas und eines immer wieder zweifelhaften Verhaltens der Hongkonger Polizei.
Aus Interesse schaue ich mir aus sicherer Entfernung an, was passiert. Von einem Moment auf den anderen taucht eine Gruppe Polizisten in kompletter Kampfausrüstung auf, mit Waffen, die man so nicht bei der Polizei in Deutschland gewohnt ist. Neben den üblichen Revolvern, die die Beamten hier tragen, sind sie ausgerüstet mit Paintball-Gewehren, die Pfefferspraykugeln verschießen, und Granatwerfern, mit denen Tränengaskartuschen verschossen werden. Ich halte Abstand. Im Gegensatz zu den Menschen hier habe ich keinen Mundschutz, keine Gasmaske und keinen Helm.
Die Journalisten, die über die Proteste berichten, stehen in der ersten Reihe. Meistens zwischen der Polizei und den Demonstranten. Sie tragen gelbe Westen, Helme und Gasmasken – und bisher waren sie meist sicher vor Angriffen der Polizei. In den letzten Tagen geraten aber auch sie immer wieder in Gefahr.
Demonstranten haben Angst vergessen zu werden
An diesem Abend berichten mir Journalisten, dass ihnen die Granatwerfer und Pfefferspray-Gewehre direkt vor das Gesicht gehalten wurden und ihnen nahegelegt wurde, die Berichterstattung einzustellen. Ich sehe eine komplette Straße voller Demonstranten – nicht vermummt, sondern normale Studenten – die mit Pfefferspray und Tränengas beschossen wurden. Es ist schwer mit anzusehen. Mich beeindruckt, wie jeder jedem hilft, wie Händler aus den kleinen Essensläden sofort Wasser holen, damit sich Menschen mit tränenden Augen diese ausspülen können. Ich werde immer wieder darauf hingewiesen, wo es sicher ist. Mir werden Masken angeboten, ich werde vor der Polizei gewarnt.
Am nächsten Tag stehen gegenüber unserem Hotel mehrere Polizeibusse mit Blaulicht, auf unserer Straßenseite sitzen und stehen ungefähr 20 junge Menschen, die die Polizisten auf Kantonesisch (Amtssprache in Hongkong) und Mandarin (Amtssprache in China) anschreien. Da hier alle Englisch sprechen, frage ich eine Frau, was sie machen. "Wir machen uns über sie lustig. Sie stehen dort nur, weil sie die Bushaltestelle blockieren, damit wir nicht nach Hause kommen."
Die fünf Forderungen der Demonstranten:
1. keine Auslieferung von Hongkongern nach China
2. keine Bezeichnung der Demonstrationen als "Randale"
3. keine Strafverfolgung von Demonstranten
4. eine Kommission, die Polizeibrutalität und -fehlverhalten untersucht
5. volles Wahlrecht für alle Hongkonger
U-Bahnen und Busse werden immer früher am Abend eingestellt, damit die Demonstranten schlechter nach Hause kommen. "Wir schreien sie auch auf Mandarin an, die Hälfte sind vermutlich mainland-Chinesen" – also Polizeikräfte, die von der Chinesischen Regierung nach Hongkong geschickt wurden. Dazu gibt es keine offiziellen Informationen, aber jeder, mit dem ich spreche, hält es für sehr wahrscheinlich.
Immer wieder Begegnungen mit schwerbewaffneter Polizei
Das Tränengas, das ich am nächsten Abend mehrfach einatme, brennt. Die Haut brennt, der Hals brennt und meine Augen tränen. Dabei wurde das Gas mehr als 100 Meter entfernt, hinter der nächsten Straßenecke verschossen. Der faule Gestank kommt vor dem Brennen – mir rennen in jeder Straße Menschen entgegen, die sagen, wir sollen sofort umdrehen und in die andere Richtung gehen. Am Straßenrand versorgen Sanitäter Demonstranten, die mehr von dem Gas abbekommen haben. Überall übergeben sich Menschen oder brechen zusammen. Ich habe vorher noch nie mit Tränengas zu tun gehabt, aber selbst ich bin mir schnell sicher, dass dem aus China importierten Tränengas Stoffe zugesetzt sind, die maximalen Schaden anrichten sollen.
Nach 20 Minuten des Herumirrens finde ich ein Restaurant, das nicht in einer von Tränengas eingenebelten Straße liegt. Im Laufe des Abends ändert sich auch das. Der Besitzer macht in Ruhe die Tür zu und lacht, "Tränengas, bleibt einfach hier. Wir sagen Bescheid, wenn ihr wieder raus könnt". Die Menschen sind es gewohnt. Jeder hilft jedem – weil die Polizei, die eigentlich helfen soll, für das Chaos und das Tränengas verantwortlich ist.
In den folgenden Tagen begegne ich immer wieder der Polizei. An jeder Straßenecke frage ich mich, ob gleich wieder Tränengas in meiner unmittelbaren Nähe verschossen wird. Als ich durch ein Einkaufszentrum laufe, fangen Menschen auf einmal an zu rennen. Die Polizei soll ins Gebäude gegangen sein und Tränengas angedroht haben. Das kündigen die bewaffneten Kräfte hier tatsächlich mit großen farblich kodierten Schildern an. Dieses Mal war es nur ein Fehlalarm, zum Glück.
Später stehen am Eingang eines anderen Einkaufszentrums ein paar Polizisten, einige in Uniform mit Schutzkleidung, einige in Zivil, aber mit Kamera. Ich bin ganz sicher gefilmt worden – wie ich wiederum filme. Die Situation in Hongkong ist teilweise zu absurd und beunruhigend, um es nicht zu dokumentieren. Doch ich sehe aus wie eine Touristin, so bin ich ja ursprünglich auch hergekommen, und werde nicht, wie andere Journalisten, gefragt, was ich mache und aufgefordert, dass ich nicht filmen soll.
Ein Kampf für die Demokratie – und gegen China
Neben diesen Begegnungen mit der Polizei und dem wiederholten Einatmen des Tränengas, bleiben von der Reise nach Hongkong auch sehr bewegende Momente in Erinnerung. Eine von der Regierung genehmigte Trauerfeier für den toten Studenten Chow brachte laut Veranstalter 100.000 Menschen zusammen. Auch hier herrschte vielmals einfach Stille. Menschen aus allen Bevölkerungsschichten weinten zusammen, um einen von ihnen. Mir werden die Herzlichkeit und Fürsorge, die ich in einer Woche Hongkong erfahren habe, lange in Erinnerung bleiben.
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Gerade als jemand aus Deutschland ist für mich friedlicher Protest das erste Mittel der Wahl. Die gewaltbereiten Demonstranten in Hongkong als Randalierer zu bezeichnen, ist jedoch, angesichts der Gefahr einer möglichen vollständigen Übernahme durch China, zu einfach. Sicherlich ist Zerstörung nicht zu befürworten. Doch die sogenannten "black clad"-Demonstranten sind verzweifelt und sehen ihre Zukunft in Gefahr. Sie wollen in einer Demokratie leben und nicht von China vollständig vereinnahmt werden. Und sie riskieren dafür – wie spätestens seit Anfang November klar ist – ihr Leben.
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