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Anschlag in Halle: "Der Täter war eingebettet in größere Netzwerke"


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Forscherin Julia Ebner
"Der Halle-Täter war eingebettet in größere Netzwerke"


Aktualisiert am 15.10.2019Lesedauer: 7 Min.
Demonstration gegen Antisemitismus und Rassismus: Unter Rechtsextremen sind die beiden menschenfeindlichen Einstellungen weitverbreitet.Vergrößern des Bildes
Demonstration gegen Antisemitismus und Rassismus: Unter Rechtsextremen sind die beiden menschenfeindlichen Einstellungen weitverbreitet. (Quelle: F. Boillot/imago images)

Der Attentäter von Halle handelte offenbar allein – aber er hatte Vorbilder und Gleichgesinnte. Entwickelt sich in Onlinenetzwerken eine neue Art Organisation? Und was kann man vom IS über sie lernen?

Entsteht da gerade etwas Neues? Die jüngsten rechtsterroristischen Anschläge wie der in Halle unterscheiden sich von früheren. Mit klassischen rechtsextremen Organisationen hatte der Attentäter Stephan B. nach vorläufigen Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden nichts zu tun. Und doch war er nicht allein.

Er war in rechtsextremen Imageboards unterwegs, Foren abseits der großen Plattformen wie Facebook. Die Extremismusforscherin Julia Ebner kennt einige dieser Gruppen genau, sie mischte sich für ihr Buch "Radikalisierungsmaschinen" undercover unter ihre Mitglieder. Im Gespräch mit t-online.de beschreibt sie, was diese Form des Terrorismus auszeichnet, denkt darüber nach, wie sich diese Netzwerke als politische Einheit denken lassen und ob eine neue Szene gerade Gestalt annimmt.

t-online.de: Frau Ebner, der Begriff sorgte am Tag des Anschlags von Halle für Aufregung: War der Terrorist ein Einzeltäter?

Julia Ebner: Nein, er war nach allem, was wir wissen, kein Einzeltäter, diese Vorstellung führt in die Irre. Er war eingebettet in größere Netzwerke und Strukturen.

Die Propaganda des "Islamischen Staats" nennt Attentäter, die nicht in die Organisation eingebunden waren, aber unter Berufung auf seine Ideologie handeln, anerkennend "Soldaten des Islamischen Staats". Müssten wir nun von so etwas wie "Soldaten der Imageboards" sprechen?

Das ist ein guter Vergleich. Leider haben wir rechtsextreme Onlinenetzwerke bisher ganz anders betrachtet als Netzwerke des IS. Es handelt sich bei den rechtsextremen Anschlägen in Christchurch, Poway, El Paso oder Halle um sehr ähnliche Phänomene: um Copycat-Terrorismus oder inspirativen Terrorismus, den wir auch beim IS erlebt haben.

Inspirativer Terrorismus, das ist Terrorismus, der andere nachahmt. Vielleicht könnte man sogar von iterativem Terrorismus sprechen – also Terrorismus, der sich Schritt für Schritt entwickelt, sich auf vorausgehende Anschläge bezieht und so erst nach und nach eine spezifische Form gewinnt?

Ja, wie beim IS: Die Terroristen, die 2015 in Paris das Bataclan und das Stade de France angegriffen haben, hatten engen Kontakt zur Organisation. Viele der späteren Anschläge wurden aber von kaum verbundenen Tätern verübt. IS-Anhänger ahmten einander nach, um die Anerkennung ihrer Community zu gewinnen. Sehr ähnlich läuft das jetzt ab.

Unter den Attentätern fallen Ähnlichkeiten auf: militärische Kleidung, Gewehre und Sprengstoff als Waffen, Dokumentation der Ideologie in Manifesten und Videos.

Darüber hinaus gibt es eine gemeinsame Sprache, gemeinsame politische Ziele, gemeinsame Vorstellungen vom Feind. Es handelt sich um verschiedene Subkulturen, die sich verbinden, verschmelzen, nachahmen oder inspirieren. Man sieht das gut daran, wie Begriffe von Plattform zu Plattform wandern. Das hat eine andere Form als lokal verankerte Organisationen, mit denen wir es früher zu tun hatten.

Solche Gruppen waren traditionell straff geführt, heute sind sie oft dezentral organisiert. Gibt es so etwas wie Führungsfiguren der "Imageboard-Soldaten"?

In der Wahrnehmung der Nutzer geht es eher um Zugehörigkeit zu einer Gruppe, als darum, einem Führer zu folgen, der Anweisungen gibt. Am sichtbarsten sind Social-Media-Influencer und Pseudo-Intellektuelle, die ideologische Vorarbeit machen. Es gibt auch Anführer, die Kampagnen leiten oder für strategische Kommunikation verantwortlich sind.

Wer sind diese Leute?

Vor allem rechte YouTuber wie Nikolai Alexander von Reconquista Germanica oder Menschen wie Martin Sellner von der Identitären Bewegung, also Leiter von größeren Bewegungen. In den USA sind das Aktivisten wie Richard Spencer oder Andrew Anglin, Gründer rechtsextremer Websites. Sie verbreiten die Verschwörungstheorie des "großen Austauschs", "Bevölkerungsaustauschs" oder "weißen Genozids". Auf Plattformen wie dem Imageboard 8chan gibt es nur mehr oder weniger einflussreiche Nutzer, aber keine klaren Anführer.

Attentäter wie der aus Christchurch werden von Nachahmern und in Foren mitunter als "Heilige" verehrt. Da erschaffen sich die Akteure des iterativen Terrorismus offenbar eigene Märtyrer und Helden.

Auf den Waffen des Christchurch-Attentäters standen die Namen seiner Vorbilder im Rechtsterrorismus, von Dylann Roof und Anders Breivik bis Alexandre Bissonnette. Eine "New York Times"-Studie hat gezeigt, dass mindestens ein Drittel der seit 2011 erfolgten rechtsextremen Terrorangriffe durch ähnliche Angriffe inspiriert waren. Leider ist hier auch die verstärkende Rolle der Medien aufgrund des sogenannten Werther-Effekts nicht zu unterschätzen. So ähnlich verhält es sich mit dem Copycat-Terrorismus.

Können Sie beschreiben, wie die Mitglieder ihre Community selbst wahrnehmen? Als Schicksalsgemeinschaft, als Imageboard-Community, als Kameradschaft, als Volk?

Es gibt da keine einheitliche Wahrnehmung. Da sind Leute, die das Spielerische der Trollkultur oder Gaming-Szene faszinierend finden, aber auch überzeugte Ideologen, die mit politisch Gleichgesinnten reden wollen. Viele sprechen von Kameradschaft oder sogar Freundschaft und man merkt, dass sich die meisten Anerkennung, Applaus oder Zustimmung von der Community, also ihren "fellow anons", erarbeiten wollen.

Fühlt man sich nur seiner Teilgruppe, seinem 8chan-Board, seiner Facebook-Gruppe zugehörig – oder reicht das Zugehörigkeitsgefühl darüber hinaus?

Die Rechtsextremen sind im Regelfall vernetzt und sie verstehen sich oft plattformübergreifend als Bewegung. Auf 8chan werden Links geteilt, so kommt man dann etwa zu einem rechten YouTuber oder landet in Gruppen von Messengerdiensten wie Discord. Das sind keine isolierten Blasen.

Kennen sich die Mitglieder solcher Gruppen? Erkennen sie sich?

Man bleibt eher anonym oder pseudonym, was auch daran liegt, dass viele der Nutzer aus der Trolling-Kultur kommen, wo man seine echte Identität nie preisgibt. Aber man erkennt sich an Nutzernamen, die oft ähnlich oder gleich auf verschiedenen Plattformen genutzt werden. Und man erkennt sich vor allem am Insidervokabular, das oft ein Hybrid aus Internetkultur und weißem Nationalismus ist.

In vielem ähneln Online-Communitys traditionellen rechtsextremen Organisationen: Es gibt Treffpunkte, Sprache, eine verbindende Ideologie. Analoge Organisationen haben oft auch noch eigene Namen oder Logos. Gibt es ein Äquivalent dafür in diesen Gruppen?

Ja, schon. Es gibt sehr oft Anspielungen in den Nutzernamen selbst. Zum Beispiel Abkürzungen wie 88 und HH, die auf Adolf Hitler anspielen. Es gibt aber auch historische Verweise wie "Reconquista" als Anspielung auf die Rückeroberung der islamisch kontrollierten iberischen Halbinsel. Der Schlachtruf der ersten Kreuzritter "Deus Vult" – Gott will es – wird von Rechtsextremen ähnlich verwendet wie "Allahu Akbar" von Islamisten. Außerdem gibt es Memes und Symbole wie "Pepe the Frog" oder die "Kekistan-Flagge".

Welche Rolle spielen die großen Plattformen wie YouTube und Facebook? Kann man sie wie Vorfeldorganisationen des Rechtsextremismus verstehen, die Menschen mit weniger extremen Inhalten in die Szene ziehen sollen?

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Ja, die Indoktrinierung findet auf kleineren Plattformen und in Gruppen statt, die eher abgeschottet werden. Auf Seiten wie YouTube und Facebook versuchen die Rechtsextremen, bekannter zu werden, die Politik zu beeinflussen und neue Mitglieder zu werben. Die werden "Normies" genannt, Normalmenschen, die noch nicht die Wahrheit erkannt haben – die noch nicht die "red pill" geschluckt haben.

Wie im Film "Matrix", in dem derjenige die vorgegaukelte Wirklichkeit durchschaut, der die rote Tablette nimmt. Wie funktioniert das?

Bei meinen Undercover-Recherchen wurde mir erzählt, dass etwa YouTube-Videos verschickt werden, die Antworten auf aktuelle Fragen geben. Zum Beispiel, warum es so viele Terroranschläge gibt. Die Erklärungen sind dann stark ideologisch gefärbt. Ein anderer Weg sind Memes, oft spielerische oder lustige Bilder mit kurzen Texten. So geht es Schritt für Schritt weiter, hin zu immer klareren rechtsextremen Verschwörungstheorien. Es gibt genaue Anleitungen, wie dieses "red pilling" funktioniert.

Wer verfasst diese Anleitungen? Möglicherweise auch Kader aus Organisationen?

Es sind zwar Überlappungen zwischen den Online-Communitys und den Offline-Gruppen nachweisbar, man begegnet zum Beispiel Nutzern, die erkennbar zur Identitären Bewegung gehören. Aber die Verfasser der Anleitungen bleiben pseudonym, über ihre Offline-Identität können wir in vielen Fällen nichts sagen.

Was Sie beschreiben, klingt nach einer klaren Strategie, wie sie in der Neuen Rechten schon lange verfolgt wird.

Das Ziel, die Gesellschaft nach rechts zu verschieben, wird tatsächlich strategisch verfolgt. Allerdings meistens über Metapolitik und die Verschiebung des Diskurses, nicht über Gewalt.

Wie kommt es dann trotzdem immer wieder zu Terroranschlägen?

Die Radikalisierung hin zur Gewaltbereitschaft ist ein Nebenprodukt dieser Strategie, das macht sie so gefährlich. Viele Rechtsextreme glauben an einen unvermeidlichen Rassen-, Kultur- und Religionskrieg. Einige Untergruppen gehen weiter und wollen den Ausbruch eines Bürgerkriegs mit Terroranschlägen beschleunigen. Vor allem, wenn Mitglieder den Glauben an politische und metapolitische Mittel aufgeben, können die Ideologien schnell zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen.

Der Täter von Halle hat sein Handeln in großen Teilen antisemitisch begründet, auch wenn es andere menschenfeindliche Ideologieversatzstücke gab. Ist das typisch in der Szene?

Sehr viele der Nutzer sind klar antisemitisch eingestellt. Für andere sind vor allem Muslime und Migranten die Feinde. Das klingt sehr unterschiedlich, in Wirklichkeit sind die einen aber nur einen Radikalisierungsschritt von den anderen entfernt. Oft sprechen sich Menschen erst gegen Migration und Muslime aus, dann glauben sie an den "großen Austausch" und am Schluss geben sie den Juden die Schuld für all das.

Der Halle-Täter vertrat noch eine weitere Ideologie, nämlich Anti-Feminismus. Auch die "red pill"-Metapher verbreitete sich in der anti-feministischen "Männerrechtler"-Szene.

Die Gruppen haben sich in den vergangenen Jahren vermischt – Rechtsextreme, sogenannte Männerrechtler, auch Teile der Gaming-Szene, in der eine bestimmte Form von Männlichkeit und Abwertung von Frauen verbreitet ist. Nach und nach hat sich in der größeren anti-liberalen Verschwörungstheorie eine anti-feministische Ebene entwickelt. Der Feminismus erscheint in dieser Erzählung als weiteres Mittel, um den weißen Mann verschwinden zu lassen.

Täuscht der Eindruck, dass Anti-Feminismus oft ein Einstieg in die Szene ist?

Inzwischen ist er tatsächlich zu einem Einstiegspunkt in die rechtsextreme Szene geworden, deren Anhänger aus ihrem Anti-Liberalismus und ihrem Hass auf Linke heraus dann oft nationalistische Ideologien annehmen. Hier spielen die Sozialisierungsprozesse und Freundschaften, die neue Mitglieder in den Gruppen schließen, eine große Rolle.

Wenn man die rechtsextreme Onlineszene als neues, eigenes Netzwerk versteht, das nach und nach Gestalt annimmt: Was kann man gegen diese Radikalisierung tun? In der analogen Rechtsextremenszene versuchen zum Beispiel Streetworker, Menschen aus dieser sozialen Gruppe herauszulösen.

Ganz ähnlich wie in der analogen Welt müsste es mehr Online-Deradikalisierungsprogramme geben, die in Imageboards und auf Plattformen ansetzen. Wir haben mit Psychologen und Aussteigern auf Facebook Menschen angeschrieben, die rechtsextreme Inhalte posten oder in bestimmten Gruppen sind. Wir wollten in einen Dialog kommen. Zehn Prozent unserer Anfragen waren erfolgreich und führten dazu, dass diese Menschen die extremen Gruppen verließen. Das müsste es auch für kleinere und verstecktere Plattformen geben.


Rechtsextreme Vereine werden ab und an auch verboten – ließe sich das auf die Online-Communitys übertragen, die Sie kennengelernt haben?

Verbote sind immer eine heikle Angelegenheit, die auch kontraproduktiv sein können. Es wäre natürlich wichtig, klar gewaltbereite Communitys zu verbieten, auch im Onlineraum. Aber denjenigen Gruppen, die in gesetzlichen Grauzonen arbeiten, müssen wir anders begegnen – etwa mit innovativeren Online-Interventionsmethoden. Sonst könnten Verbote dazu führen, dass sie den Opfernarrativen der Extremisten in die Hände spielen.

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