Pressestimmen zum Brexit-Wirrwarr "Das demütigende Ende einer steilen Karriere"
Boris Johnson muss im Parlament eine heftige Niederlage einstecken. Ihm laufen die Abgeordneten davon. Auch die internationale Presse geht mit dem britischen Premier hart ins Gericht.
Raus aus der EU – notfalls ohne Vertrag. Das war das große Versprechen von Premierminister Boris Johnson. Doch Brexit-Gegner in der eigenen Partei haben nun die Seiten gewechselt. Für Johnson kommt es knüppeldick, sagt die internationale Presse.
"Der Standard" (Wien): "Politik in Großbritannien ging bisher so: Das Wahlvolk gibt einer der beiden großen Parteien eine klare Mehrheit im Unterhaus. Die von der Königin mit der Regierungsbildung beauftragte Person bildet ein Kabinett, in dem die diversen Strömungen der siegreichen Partei vertreten sind. Auch mit kritischen Hinterbänklern bleibt die Bewohnerin der Downing Street im Dialog. So haben es zuletzt die Konservativen David Cameron und Theresa May gehalten.
Ihr Nachfolger Boris Johnson aber hat seine Partei zur Pro-Brexit-Partei umfunktioniert und steuert den chaotischen EU-Austritt an. Sein Kabinett besteht aus jämmerlichen Jasagern, hochangesehene Kritiker mit jahrzehntelanger Parlamentserfahrung bedroht er mit dem Parteiausschluss, das Unterhaus wird mitten in der schwersten politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes für fünf Wochen geschlossen – ein beispielloser Vorgang am äußersten Rand der Legalität."
"Times" (London): "Die Gefahr für (Premierminister) Boris Johnson besteht darin, dass selbst ein Einlenken gegenüber den Forderungen des Parlaments nicht genug ist, um zu verhindern, dass weitere Schläge auf ihn einprasseln. Er muss hoffen, dass Labour einer Wahl für Mitte Oktober zustimmt, denn dann wären die Folgen des Brexits noch unklar. Doch (Labour-Chef) Jeremy Corbyn könnte das verweigern.
Tatsächlich entspräche es eindeutig den Interessen von Labour, eine Wahl vor dem 31. Oktober zu verweigern und Johnson damit zu zwingen, die politische Demütigung zu ertragen, um einen Aufschub des EU-Austritts bitten zu müssen. Dann könnte der Premierminister nur noch hoffen, dass die EU dies verweigert oder einem Deal zustimmt, bei dem seine Forderungen erfüllt werden. Weder das eine noch das andere ist derzeit wahrscheinlich."
"Verdens Gang" (Oslo): "Boris Johnsons historische Niederlage im Unterhaus am späten Dienstagabend hatte die Prägung eines demütigenden Endes einer steilen politischen Karriere. Die Torys sind gespalten. Das Volk ist geteilt. Die britische Union knackt in den Gelenken. In der Summe hat er es nur geschafft, die Bande zwischen der Opposition und den Moderaten in seinen eigenen Reihen zu stärken, inklusive einer Anzahl ausgewiesener Tory-Spitzen. Boris Johnson kann immer noch historisch werden. Nicht als der, der die Briten aus der EU führte. Sondern als der, der die kürzeste Zeit im Stuhl des Premierministers saß."
- Meinung: Die Falle schnappt zu
t-online.de: "Abends kam es dann knüppeldick: Ein Block von 21 'Rebellen' in der Regierungspartei, darunter ehemalige Minister, machten gemeinsam mit der Opposition den Weg für eine Abstimmung frei, mit der das Unterhaus die Brexit-Pläne Johnsons und seiner Mitstreiter noch heute durchkreuzen kann. Das Parlament wird darüber entscheiden, ob es den Premier zum Bittgang nach Brüssel verdonnert, damit er dort eine weitere Verlängerung der Verhandlungen erwirkt. Der 'Brexit ohne Wenn und Aber' am 31. Oktober, den Johnson zu seinem Markenzeichen gemacht hat? Erledigt. Vom Tisch. Aus die Maus."
"La Montagne" (Frankreich): "In einer Zeit, in der der Populismus triumphiert, wird erst die Tür zugeschlagen und dann nachgedacht. Boris Johnson setzt seinen Kurs mit gesenktem Haupt fort, nachdem gestern mitten in der Debatte in Westminster ein Abgeordneter die Seiten gewechselt hat. Aber das dürfte Johnson nicht weiter beunruhigen, denn er hat beschlossen, die Bevölkerung gegen die Abgeordneten auszuspielen, die sich seit Monaten nicht einigen können. Der Premier will ohne jede Rücksichtnahme einen Schlussstrich ziehen."
"Augsburger Allgemeine": "Anstatt Konsens zu suchen, hat Boris Johnson seine Kritiker mit seinem unnachgiebigen, kaltschnäuzigen Kurs weiter gegen sich aufgebracht. Dass nun rebellische Abgeordnete aus den eigenen Reihen mit der Opposition paktieren wollen oder zu anderen Parteien überlaufen, ist Johnsons Schuld. Es herrscht Krieg in der konservativen Partei.
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Während sich die Tories vor den Augen der Welt selbst zerfleischen, reißen sie auf sagenhafte Weise das Land in den Abgrund. No-Deal-Gegnern, die vermeiden wollen, dass ihr Land nach dem EU-Austritt ins völlige Chaos schlittert, droht der Fraktionsausschluss. Das hat autoritäre Züge. Heuchlerisch ist das Vorgehen dazu. Ohne Johnson und seine Leute gäbe es längst einen geregelten EU-Austritt."
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP