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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdoğans Militäroffensive "Die türkische Regierung kämpft ums Überleben"
Was bezweckt die Türkei mit der neuen Offensive in Syrien? Für Nahost-Experte Daniel Gerlach setzt Erdoğan damit eine klare Botschaft an mehrere Lager.
Recep Tayyip Erdoğan hatte eine klare Botschaft: "Sobald wie möglich werden wir, so Gott will, zusammen mit unseren Panzern, Soldaten und Weggefährten, alle ausrotten", sagte der türkische Präsident am Dienstag mit Blick auf die begonnene Offensive gegen kurdische Stellungen in Syrien und dem Irak. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte da gerade noch um Zurückhaltung bei ihrer Reise nach Ankara zu ihrem türkischen Amtskollegen geworben.
Am Wochenende hatten die türkischen Streitkräfte ihre fünfte Offensive auf ihr Nachbarland begonnen. Zuvor war es in Istanbul zu einem Anschlag gekommen, für den die Regierung die Kurdenmiliz YPG und die verbotene Arbeiterpartei PKK verantwortlich macht – auch wenn beide Gruppen das von sich weisen.
Viele sehen in der Offensive nur ein fadenscheiniges Manöver, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Nahost-Experte Daniel Gerlach hält die Strategie der türkischen Regierung dagegen für effektiv. Im Gespräch mit t-online erklärt er, welches Zeichen Erdoğan damit innenpolitisch setzt, warum die Bundesregierung an der jetzigen Situation wenig ändern kann und ob der türkische Präsident die Wahlen im kommenden Jahr verlieren könnte.
t-online: Wie glaubhaft ist es, dass eine der beiden kurdischen Organisationen für den Anschlag verantwortlich ist?
Daniel Gerlach: Ausschließen kann man das nicht. Aber die Verantwortung der Gruppen scheint weder erwiesen noch wirkt sie auf mich besonders wahrscheinlich. Vielmehr ist die Geschwindigkeit, mit der die türkische Regierung hier ein Narrativ zur Hand hat und angeblich lückenlos Beweise präsentiert, bemerkenswert.
Wie meinen Sie das?
Binnen Stunden nach einem Anschlag an einem der bestbewachten öffentlichen Plätze der Türkei war die vermeintliche Täterin identifiziert, ihre angebliche Einreise aus Syrien rekonstruiert, die Drahtzieher ermittelt. Daraus wurde dann der Anspruch abgeleitet, die türkische Regierung müsse den Antiterrorkrieg in Syrien fortsetzen. Dabei wurde auch speziell auf Kobani verwiesen, also einen der wenigen Abschnitte an der türkisch-nordsyrischen Grenze, welche die Türkei bisher nicht kontrolliert. Die Ermittlungen passten jedenfalls ideal zu den politischen Prioritäten.
Erdoğan hat eine solche Offensive ohnehin schon lange geplant. Der Anschlag scheint nun ein geeigneter Vorwand zu sein.
Man hat schon im vergangenen Frühsommer eine größere Militäroperation angekündigt. Die wurde dann aber nicht vollumfänglich umgesetzt. Gleichzeitig muss man sagen: Die Türkei benötigt eigentlich keinen Vorwand, um militärisch in Syrien tätig zu werden. Sie hat bereits mehrere Feldzüge dort durchgeführt.
Zur Person
Daniel Gerlach, geboren 1977, ist Orientalist, Experte für den Nahen Osten und Chefredakteur des deutschen Fachmagazins "Zenith". Daneben hat er mehrere Bücher zum Nahen Osten verfasst.
Es ist auch ein wiederkehrendes Muster: Erdoğan lenkt mit außenpolitischen Aktionen von innenpolitischen Problemen ab. Aktuell ist die Inflation extrem hoch, seine Umfragewerte stehen schlecht, und nächstes Jahr stehen Wahlen an.
Wir denken in Deutschland gerne, dass solche Manöver nicht funktionieren, nur weil sie durchsichtig wirken. Im Gegenteil: Was Erdoğan tut, ist ziemlich effizient. Seine größte Gefahr kommt innenpolitisch gerade von rechts. Eine potenzielle Allianz von mehreren Politikern bedroht seine Macht. Diese Allianz verfolgt in der Kurdenfrage allerdings dieselben Ziele wie er – von Nuancen abgesehen. Bisher hat der Präsident seinen Umgang mit der Kurdenfrage genutzt, um die linken, die prokurdischen und die nationalistischen Lager zu spalten. Mit einem Schlag gegen kurdische Milizen in Nordsyrien sendet er auch ein Zeichen an seine Anhänger: Dass er sich von den USA und dem Westen, die ihn davon abhalten wollten, angeblich nichts sagen lässt.
Die türkische Regierung kämpft ums Überleben, die türkische Bevölkerung sowieso.
Daniel Gerlach
Das hat nun auch Nancy Faeser gespürt: Die Innenministerin hatte bei ihrem Besuch an diesem Dienstag die Türkei um Zurückhaltung gebeten. Danach deutete Erdoğan erneut an, dass es bald zu einer Bodenoffensive kommen könnte, mit der er kurdische Milizen "ausrotten" will.
Wenn die Bundesregierung die türkische Führung gütlich stimmen will, kann sie Geld, Visafreiheit für türkische Bürger oder bessere Handelsbeziehungen mit der EU in Aussicht stellen. Letztendlich hat Deutschland in der jetzigen Lage aber wenig in der Hand. Die türkische Regierung kämpft ums Überleben, die türkische Bevölkerung sowieso. Und mit dem Innenminister Süleyman Soylu hat Erdoğan einen ausgewiesenen Hardliner im Kabinett, der Europa und die USA nach eigenem Bekunden nicht sehr respektiert.
Deutschland ist wegen des Flüchtlingsabkommens weiter auf die Türkei angewiesen. Macht das unsere Regierung nicht erpressbar?
Die Türken haben immer mal wieder ins Spiel gebracht, dieses und andere Abkommen aufzukündigen. Letztendlich haben sie sich aber immer an internationale Abmachungen gehalten, auch wenn sie rhetorisch den gegenteiligen Eindruck erweckten. Die Regierung in Ankara steht massiv unter Druck, nicht zuletzt weil die Stimmung gegenüber den Syrern und anderen Vertriebenen im Land angesichts der wirtschaftlichen Lage extrem kritisch ist.
Schwierigkeiten bereitet die Türkei auch Schweden und Finnland: Erdoğan blockiert seit einigen Monaten den Nato-Beitritt der beiden Länder, weil er von den Staaten mehr Härte gegen angebliche PKK- und YPG-Anhänger fordert. Beide Regierungen sind bereits auf die Türkei zugegangen.
Als die Nato gegründet wurde, sollte sie ein Gegengewicht zum kommunistischen Block bilden. Da war man froh, dass die Türkei dabei war. Es hätte damals wohl niemand für möglich gehalten, dass eines Tages in einer so brenzligen Lage ein Mitglied den Beitritt anderer Staaten aus politischen Gründen blockieren könnte – obwohl der Beitritt die Allianz ja stärkt.
Vielleicht wird auch in unserer Lage häufig unterschätzt, wie viel Macht die Türkei in dem Bündnis hat und dass sie dementsprechend auch Forderungen stellt.
Die Erweiterung ist für die Nato von übergeordnetem Interesse. Und nach den USA hat die Türkei zahlenmäßig die zweitgrößte Armee in der Nato. Auch wenn sie sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen hat, kann man nicht sagen, dass die Türkei einfach nur opportunistisch sei oder gar russische Interessen bediene. Ankara hat etwa russische Truppentransporte durch türkische Meerengen eingeschränkt. Außerdem hat die Türkei als Erstes gemeinsam mit der Ukraine Kampfdrohnen entwickelt und Material geliefert. Die türkische Regierung findet natürlich, dass ihr Einsatz im Westen nicht gewürdigt wird.
Erdoğan will sich auch als Vermittler zwischen dem Westen, der Ukraine und Russland hervortun. Wie bedeutend ist seine Rolle in diesem Zusammenspiel?
Denken Sie an die Verhandlungen um die ukrainischen Getreideexporte. Viele haben damals gedacht, dass die türkische Regierung der falsche Vermittler sei. Aber sie haben es hingekriegt, weil sie damit große eigene Interessen verbinden. Erdoğan hat Macht und wird von anderen Machtmenschen respektiert. Die Idee seiner Politik ist eben: Maximaler Druck und maximale Aggressivität – damit kommt man durch. Er ist kein Spieler der leisen Töne.
Trotzdem ist sein Image im Land schlecht. Halten Sie es für realistisch, dass er 2023 tatsächlich abgewählt werden könnte?
Im kommenden Jahr feiert die Türkische Republik ihr hundertjähriges Bestehen. Da möchte Erdoğan auf jeden Fall derjenige sein, der neben Atatürk als größter Politiker des Landes gilt. Erdoğan wird alles für seinen Triumph tun, Erlaubtes oder, wenn nötig, Verbotenes. Trotzdem ist eine Abwahl möglich. Die Chancen stehen ähnlich gut wie bei Donald Trump in den USA vor zwei Jahren. Das Problem der Opposition ist aber, dass sie bisher niemanden nominiert haben, der Erdoğan wirklich die Stirn bietet.
Würde seine Ablösung friedlich verlaufen?
Es könnte sein, dass Erdoğan es wie Trump macht und die Wahl nicht anerkennt; anders als in den USA sind die türkischen Institutionen nur vielleicht nicht so stabil, das auszuhalten. Das kann heute niemand wissen. Aber die internationale Gemeinschaft sollte sich auf ein solches Szenario vorbereiten. Gegen Erdoğan und seine Familie wird auch in mehreren Verfahren etwa wegen Korruption ermittelt. Wenn er verliert, könnte er also nicht nur in den Ruhestand gehen, sondern sich mit der Justiz auseinandersetzen müssen. Das steigert den Mut zum Risiko.
- Interview mit Daniel Gerlach