Brexit-Deal endlich fix (K)ein Weihnachtswunder
Zum gefürchteten No-Deal-Brexit zu Jahresende wird es nicht kommen: Die EU und Großbritannien haben sich doch noch geeinigt. Aber es ist der kleinste gemeinsame Nenner – und der ist keinesfalls sorgenfrei.
Um 14.44 Uhr an Heiligabend war es soweit. Ein Brexit-Deal unterm Weihnachtsbaum. Endlich. Es war ein Durchbruch in allerletzter Minute – und nach menschlichem Ermessen die letzte Wendung in der unendlichen Geschichte des britischen Austritts aus der Europäischen Union. Nur sieben Tage vor dem allseits gefürchteten "Sturz über die Klippe" ist der EU und Großbritannien doch noch ein Handelspakt für die Zeit ab 1. Januar 2021 gelungen.
Zölle und neue wirtschaftliche Verwerfungen zum Jahreswechsel dürften nach der Einigung vom Tisch sein – falls es gelingt, den Pakt vorerst provisorisch anzuwenden, denn zur Ratifizierung fehlt auf EU-Seite die Zeit. Der Hunderte Seiten starke Vertrag schafft die Basis für die künftige Zusammenarbeit bei Handel und Fischfang, aber auch bei Justiz, Polizei oder Energiefragen. Klar ist aber auch: So eng wie früher wird das Verhältnis nicht mehr – noch nicht einmal so eng, wie man es einst wollte. Es ist ein Minimalkonsens für einen ungewissen Neuanfang.
- Kommentar: Vernunft schlägt Fisch
Die allerletzte Runde der Verhandlungen machte dem ewigen Hin und Her seit dem Brexit-Votum der Briten am 23. Juni 2016 alle Ehre. Schon am Mittwochnachmittag hieß es, die Einigung sei nah. Aber für die letzten Meter brauchten die Unterhändler im Brüsseler Kommissionsgebäude Berlaymont dann noch einmal eine durchwachte Nacht und einen halben Tag. Pizza aus Pappkartons hielt sie über Wasser.
Johnson riss die Arme hoch
Selbst wenige Stunden vor dem Schlusspunkt war noch einmal die Rede von Problemen und Hürden, Taschenspielertricks und verlorenem Vertrauen. Aber dann hieß es doch: Wir haben einen Deal. Beide Seiten feierten den Durchbruch fast gleichzeitig, aber eben bereits getrennt in Brüssel und London. Premierminister Boris Johnson riss die Arme in die Luft und zeigte mit den Daumen nach oben – das war sein Bild des Tages auf Twitter. Alle mit dem Brexit verbundenen Ziele seien erreicht, betont seine Regierung.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schwärmte in Brüssel ihrerseits von der starken Verhandlungsposition der EU und zeigte sich sicher: "Mit dieser Vereinbarung schreiben wir Geschichte." Aber es schwang bei beiden auch ein wenig Wehmut mit. "Abschied ist so süße Trauer", sagte von der Leyen. Johnson, mit passender Krawatte zum ewigen Streitthema Fisch, revanchierte sich mit dem Versprechen: "Wir werden euer Freund sein." Doch alle wissen: Es ist etwas zu Ende. Jetzt ist wirklich Brexit.
Kurz nach dem britischen Referendum hatte die EU noch Illusionen, die Briten würden im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben - was wirtschaftlich die wenigsten Einbußen gebracht hätte. Schließlich sind die Handelsbeziehungen denkbar eng. Mehr als die Hälfte der britischen Importe (52 Prozent) kamen im vergangenen Jahr aus der EU. Ihr Wert belief sich auf 374 Milliarden Pfund (etwa 414 Milliarden Euro). Gleichzeitig exportierte das Königreich Waren im Wert von rund 294 Milliarden Pfund (rund 325 Milliarden Euro) auf den Kontinent – ein Anteil von 43 Prozent aller britischen Ausfuhren.
EU setzte klare Bedingungen
Die frühere Premierministerin Theresa May ließ während ihrer Verhandlungen über den EU-Austrittsvertrag zumindest eine Hintertür zur Zollunion offen. Nur fand sie dafür keine Mehrheit in ihrer konservativen Partei, wo harte Brexiteers allzeit Verrat witterten. Ihr Rivale Boris Johnson übernahm und zog am 31. Januar die Scheidung von der EU durch, mit Austrittsabkommen. Doch die große Frage blieb: Wie geht es nach der vereinbarten Übergangsphase ab 2021 weiter?
Johnson tönte, er wolle den Brexit zu einem "unfassbaren Erfolg" machen. Alles andere hielt er sich offen. Mal sprach er von einem Handelsabkommen, wie es die EU mit Kanada hat, mal von "australischen Bedingungen" ohne Vertrag. Mal setzte er Fristen, die dann gerissen wurden. Mal verließ er erbost den Verhandlungstisch, um bald wieder dort Platz zu nehmen.
Die EU blieb stoisch. Sie versprach ein Abkommen mit unbegrenztem Freihandel ohne Zölle, aber mit klaren Bedingungen: fairer Wettbewerb und Zugang zu britischen Fischgründen. Das waren bis zum Schluss die härtesten Knackpunkte. Die Chefunterhändler Michel Barnier und David Frost drehten endlose Schleifen zu den immer selben Fragen: Subventionsregeln und Anpassungsmechanismen, Streitschlichtung und Fischquoten, schwimmende und bodennahe Fischsorten, Übergangszeiten. Der Streit wurde immer kleinteiliger.
Johnson aber bemühte stets die große Vision der Brexiteers: Unabhängigkeit, Souveränität, Kontrolle über die eigenen Grenzen und Regeln. Freiheit von Vorgaben der EU. Bis zur letzten Minute zögerte er, sprach scheinbar gleichmütig über den No Deal und versicherte enthusiastisch, Großbritannien werde so oder so "mächtig florieren". Die Äußerungen standen im krassen Widerspruch zu den Prognosen von Wirtschaftsexperten.
Und dann kam Corona
Die Corona-Krise hat das Vereinigte Königreich gebeutelt. Fast 80.000 Menschen sind dort inzwischen mit oder an Corona gestorben – und nun breitet sich auch noch eine neue, unheimliche Variante des Coronavirus aus. Das Gesundheitssystem ist am Limit. Die britische Regierung selbst hat für dieses Jahr wegen der Pandemie einen historischen Wirtschaftseinbruch um 11,3 Prozent prognostiziert. Ein No Deal hätte alles ungleich schlimmer gemacht.
Forscher des Londoner King's College schätzten, dass ein Austritt ohne Abkommen die britische Wirtschaft zwei bis drei Mal so hart getroffen hätte wie die Corona-Krise. Schließlich gaben Grenzschließungen wegen einer mutierten Variante des Virus und gigantische Lkw-Staus in den vergangenen Tagen einen Vorgeschmack, wie Verwerfungen im Januar aussehen könnten.
In Brüssel sind viele erbost über Johnsons Taktieren
Nun also die Einigung. Der Pakt wird die Folgen des wirtschaftlichen Bruchs mildern, Zölle verhindern, Kosten dämpfen. Der Sturz ins Ungewisse bleibt erspart. Zehntausende Jobs, die durch einen ungeregelten Brexit in Gefahr geraten wären, haben nun eine Chance.
Aber ein Start in ein harmonisches Miteinander sähe sicher anders aus. In Brüssel sind viele erbost über Johnsons Taktieren. Das Europaparlament fühlt sich ausgebootet, weil keine Zeit mehr bleibt zur Ratifizierung des Vertrags. Man kaufe "die Katze im Sack", demokratische Rechte würden ausgehebelt, klagt nicht nur der Brexit-Experte der Linken, Martin Schirdewan.
Neue Kontrollen und Formalitäten an den Grenzen gibt es auch mit Abkommen, weil die bisher im Binnenmarkt garantierten Standards nun mühselig überprüft werden müssen. Lieferketten werden nicht mehr so reibungslos funktionieren. Ein schneller Umzug zum neuen Job nach London wird schwieriger. Politisch wird sich vieles neu justieren. Diese Scheidung ist am Rosenkrieg nur knapp vorbeigeschrammt. Das Trennungsjahr war hart. Nun humpeln beide in eine neue Zeit.
- Nachrichtenagentur dpa