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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mitten im Brexit-Chaos Wie eine neue Partei die EU retten möchte
Zur Europawahl tritt eine neue Partei an: "Volt" will die EU grundlegend reformieren. Experten rechnen ihr vor allem in zwei Ländern Chancen aus – ein Deutscher gehört zu den Gründern.
Damian Boeselager sitzt im "Café Fleur" in der Stadtmitte Berlins und erklärt an diesem Mittwochnachmittag, wie er die Europäische Union retten will. Die befindet sich in großer Gefahr, glaubt er: "Wir erleben doch gerade, wie dieser Staatenbund auseinanderfällt. Der Brexit könnte nur der erste Stein sein, der wegbricht. Um die EU zu retten, brauchen wir radikal andere Ideen."
Diese Ideen stehen auf einem Flyer, den der 31-jährige Boeselager hervorzieht. Das Papier ist bereits abgegriffen, Boeselager hat den Flyer schon vielen Menschen gezeigt. Vorne drauf steht: "Europa-Fan? Volt", im Innenteil ist ein Stern abgedruckt, an dessen Ecken die Begriffe Smart State, Wirtschaftliche Erneuerung, Soziale Gleichberechtigung, Globaler Ausgleich und Bürgerbeteiligung stehen.
Radikaler Glaube an die Europäische Union
Es sind die allgemein formulierten Ziele der neuen Partei Volt, deren Gründung europäischer nicht sein könnte: Boeselager rief die Bewegung vor zwei Jahren gemeinsam mit dem Italiener Andrea Venzon und der Französin Colombe Cahen-Salvador ins Leben. Die drei Politikneulinge eint der radikale Glaube an die EU, deshalb gründeten sie Volt. Der Name sei so gewählt, weil er international gut verständlich sei, und überall dasselbe bedeute, erklärt Boeselager.
Rechte Bewegungen sind derweil international erfolgreich: In Italien sitzen die Populisten der Fünf-Sterne-Bewegung in der Regierung, der Front National hätte bei den vergangenen Wahlen in Frankreich fast die nächste Präsidentin gestellt und in Deutschland liegt die AfD in Umfragen teilweise nur wenige Prozentpunkte hinter der SPD.
Boeselager will dem Siegeszug der Populisten nicht länger zusehen. Er war bei der Bekanntgabe des Ergebnisses der amerikanischen Präsidentenwahl in einer Halle mit Hunderten Clinton-Anhängern und sah dort, wie viele von ihnen in Tränen ausbrachen, als klar war, dass Trump Präsident wird. Diesen Moment, als ein Populist Regierungschef in Amerika wurde, hat er nie vergessen.
Wie die Volt-Mitgründer Cohen-Salvador und Venzon entstammt Boeselager einer Generation, die die Vorteile Europas erfahren hat: Erasmus-Semester an der Uni, Interrail-Tickets, das Europa ohne Grenzen hat die Jugend der Gründer geprägt. Diese Grenzenlosigkeit sehen sie nun in Gefahr. Die Partei hat schon 24.000 Mitglieder, "Unterstützer", wie Boeselager sie nennt. Sie wollen die gesamte Struktur der Europäischen Union verändern.
Der 31-jährige Boeselager wirkt mit seinem Schlabberpulli und dem Dreitagebart wie ein Antagonist im oft steifen Berliner Politikbetrieb. Die "Bild"-Zeitung nennt seine Bewegung "EU-Hipster", ihn stört das nicht.
In 470 Städten gibt es mittlerweile Volt-Teams. Die gehen immer wieder auf die Straße, machen sogenannte "Listening-Tours", bei denen sie Passanten fragen, was sie sich von der Europäischen Union wünschen. Die Antworten diskutieren sie teilweise bis spät in die Nacht und gießen sie dann in ihr Wahlprogramm. In ihrer "Amsterdam Declaration" ist nachzulesen, was die Partei will: Es ist das Wahlprogramm für die Europawahl. Und es vereint liberale und soziale Positionen.
Eine europäische Arbeitsagentur
Die Gründer wollen ein Europa mit Bundesstaaten und zudem eine europäische Regierung mit einem europäischen Ministerpräsidenten einsetzen. Jeder EU-Abgeordnete soll nach dem Willen der Partei künftig direkt in seinem Wahlkreis gewählt werden. Migration und Asyl sollen mit einem europäischen Einwanderungsgesetz, sowie einer europäischen Asylbehörde und einem gemeinsamen Grenzschutz geregelt werden – und die Partei fordert eine europäische Arbeitsagentur.
Wenn alles nur auf europäischer Ebene läuft, besteht dann nicht die Gefahr, dass einzelne Länderinteressen untergehen? Boeselager lächelt müde: "Nein, also wenn wir im Moment ein Problem nicht haben, dann, dass Länder zu wenig Einfluss haben."
Volt hat hat dazu eine Art Mutterschiff in Brüssel und einzelne Beiboote in den jeweiligen Ländern. Die Volt-Ableger in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU treten zur Europawahl mit einem eigens auf die Länder abgestimmten Programm an. Unter anderem steht die Partei in den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Italien, Bulgarien, Belgien, Schweden und Deutschland auf dem Zettel, so Boeselager.
Podiumsdiskussion mit Klingbeil
Seine Lösung für das Brexit-Chaos? "Ein zweites Referendum." Auf einem Podium, wo er vor wenigen Wochen mit dem Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil saß, wurde er für diese Position aus dem Publikum angekeift. Es sei doch naiv, so zu denken. Boeselager sagte ruhig: "Ich finde das überhaupt nicht naiv. Wir brauchen die Briten, und die Briten brauchen die EU. Doch auch in Großbritannien gibt es noch zu viele Menschen, denen Lügen über die Europäische Union erzählt werden, und die sich deshalb von ihr abwenden."
Und, hat er sich nicht gut mit Klingbeil verstanden? Boeselager verzieht das Gesicht. "Na ja, der hatte sich halt auf ein Thema eingeschossen: Steuergerechtigkeit. Das ist auch durchaus wichtig, aber dann kippte die Diskussion schnell in Richtung Antipopulismus. Ich finde Populismus auch nicht gut, doch müssen wir dem doch etwas entgegensetzen! Und zwar konkrete Ideen, wie wir die EU verändern wollen."
Boeselager steht auf Platz eins der Liste, die die Partei in Deutschland aufgestellt hat. Er hat sich mittlerweile in dem Berliner Café eine Suppe bestellt und erläutert jetzt, wie die Partei arbeitet: "Volt ist bewusst durchlässig aufgebaut, die Mitglieder kommunizieren miteinander über WhatsApp, wir arbeiten manchmal bis spät in die Nacht gemeinsam an Google-Dokumenten."
Volt sieht sich prominenten Mitbewerbern gegenüber, und sie stehen unter Druck. Auch andere neue Bewegungen werden zur Europawahl antreten, beispielsweise Yanis Varoufakis, der mit seiner Bewegung "diem25" ins Parlament kommen will.
Der prominente Politiker fehlt
Frank Brettschneider, der an der Universität Hohenheim forscht, sagt: "Am ehesten dürfte Volt Aufmerksamkeit in Italien und Frankreich finden. Ob daraus Sitze resultieren, lässt sich meines Erachtens derzeit nicht begründet abschätzen."
Volt hat in Deutschland tatsächlich keinen prominenten Kopf. Boeselager ist zwar aktiv, und freut sich darüber, mal mit dem SPD-Generalsekretär Klingbeil auf einem Podium zu sitzen. Aber in Italien ist sein Mitgründer Venzon mittlerweile eine Art Medienstar. Permanent wird er in Talkshows eingeladen.
Für Deutschland sieht Brettschneider im Moment noch wenig Chancen: "Die Partei ist weiten Teilen der Bevölkerung unbekannt. Daran wird auch der Wahlkampf nicht viel ändern. Zudem hat die Partei in Deutschland keine bekannten Spitzenpolitiker. Bekanntheit ist aber eine Voraussetzung für den Wahlerfolg." Kollegen von ihm kommen zu einem ähnlichen Ergebnis, viele Wissenschaftler haben Volt auf dem Zettel, jedoch können sie kaum einschätzen, wie groß die Chancen der Partei bei der Wahl wirklich sein werden.
Flashmob und Fernsehen, um bekannt zu werden
Boeselager erläutert, wie er in Deutschland ein größeres Publikum erreichen will: "Die Lösung für mehr Bekanntheit lautet: Flashmob und Fernsehen. Wir planen öffentlichkeitswirksame Aktionen, und arbeiten daran, mehr in Talkshows eingeladen zu werden." Boeselager führt jetzt einen Kampf gegen die Zeit. Er weiß, dass ihm bis zur Europawahl nur noch sechseinhalb Wochen bleiben.
Und die mangelnde Bekanntheit ist nicht das einzige Problem der Europafreunde: Es fehlt am Geld. Die Spendenbereitschaft in Deutschland für politische Parteien ist naturgemäß eher übersichtlich. Spenden über 3.000 Euro muss die Partei veröffentlichen, bislang war das erst vier Mal der Fall. Bezahlt wird niemand in der Partei, auch keiner von denen, die sich hauptamtlich für Volt engagieren. Es sind Menschen wie Magdalena Rausch, die aktuell die Arbeit in der Partei machen.
Die 27-Jährige hat Sozial- und Kulturanthropologie studiert. Sie sagt: "Aktuell denke ich, dass die EU in der Sachpolitik sich der Arbeitslosigkeit junger Menschen in Europa, deren besserer Bezahlung und der Steuerflucht widmen muss." Etwa sechs Stunden pro Tag arbeitet sie für Volt, nebenher sucht sie jetzt nach Abschluss ihres Studiums einen Job.
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Europapolitik auf lokaler Ebene
Während Boeselager mit dem Berliner Team versucht, Aufmerksamkeit und Gelder zu generieren, sind an der Basis seine Parteifreunde auch auf lokaler Ebene aktiv. Sie wollen mit europäischen Ideen Lokalpolitik machen. Einer von ihnen ist Frank Mehler, Bürgermeisterkandidat in der Gemeinde Wachenheim. Der 53-Jährige erklärt, er wolle vor allem auf der lokalen Ebene die Bürgerbeteiligung stärken. Und: Diverse Gelder würden von der EU an die Kommunen ausgeschüttet, diese besser zu nutzen, sei auch sein Ziel.
Michael Reuther kommt aus dem gleichen Ort wie Mehler, er kandidiert für das Europaparlament, steht auf Platz fünf der Gesamtliste. Vorher war der 51-Jährige nie Mitglied einer Partei, der Ansatz von Volt hat ihn jedoch überzeugt. Ein Bekannter von ihm sei Landtagsabgeordneter in Rheinland-Pfalz, über den sagt der Vertriebsingenieur Reuther: "Ich glaube, dass er schon einiges macht, weil er in einer großen etablierten Partei ist." Vor einigen Wochen, so erzählt er es, sei er in Luxemburg mit seiner Tochter gewesen: "Da war ein Marsch für eine freie Grenze, der von Volt organisiert wurde." So richtig viele Leute sind aber nicht gekommen, der Weg sei eben noch weit.
Boeselager hat seine Suppe mittlerweile aufgegessen, er steht von seinem Platz auf. Er weiß, dass es in Deutschland knapp werden könnte. Im Hinblick auf die Europawahl sagt er: "Egal wie es ausgeht: Volt würde ich sofort wieder gründen, wenn es die Partei noch nicht gäbe."
- Eigene Recherche
- Wahlprogramm von Volt für die Europawahl (pdf)