Nach Mays Rückzieher Der Brexit-Zirkus – "Chaos, Desaster, Scherbenhaufen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Großbritannien taumelt einem harten Schnitt mit der EU entgegen. Die Optionen von Theresa May werden nach dem verschobenen Brexit-Voting nicht größer.
Chaos, Desaster, Scherbenhaufen, Durcheinander – mit diesen Worten reagierten am Montag Abgeordnete und Kommentatoren auf die Entscheidung von Theresa May, die Abstimmung im Parlament über ihren zwei Jahre lang verhandelten Ausstiegsvertrag mit der Europäischen Union zu verschieben.
Kommentatoren des britischen Fernsehens wurden nicht müde, die historische Tragweite der Ereignisse zu betonen. "Dies ist eine der wichtigsten Ansprachen der Premierministerin seit Jahren", kündigte der Moderator der BBC die Rede von Theresa May im britischen Unterhaus an. Schon zu Beginn ihrer Rede musste die konservative Politikerin allerdings Lachsalven der Abgeordneten über sich ergehen lassen als sie sagte, sie habe der Debatte um ihren Brexit-Deal aufmerksam zugehört.
Es sei aber klar geworden, dass ein nicht unerheblicher Teil des Parlaments das Austrittsabkommen nicht mittragen würde, deshalb habe sie die Abstimmung verschoben. Zuvor war bekannt geworden, dass sie das Brexit-Voting haushoch verlieren würde.
Opposition wettert gegen May
Auch nach ihrer Ansprache attackierten sie Abgeordneten aller Fraktionen scharf. Sie habe ihre Glaubwürdigkeit verloren und das Land in eine Krise gestürzt. Einige forderten ein neues Referendum. Abgeordnete der Opposition forderten ein Misstrauensvotum und forderten May auf, zurückzutreten. Sie würde ihre eigene Macht über das Wohl des Landes stellen.
Theresa May kündigte an, das Parlament bis zum 21. Januar 2019 über den Vertrag abstimmen zu lassen. Dieses Recht kann sie den Parlamentariern nicht nehmen, das wurde bereits im Sommer gesetzlich festgelegt. Mit den Weihnachtsferien bleibt ihr daher nicht viel Zeit, den Vertrag ändern zu lassen, sollte die EU überhaupt zu neuen Verhandlungen bereit sein.
Doch was passiert, wenn die Abgeordneten dann den Deal weiterhin ablehnen? Diese fünf Auswege aus dem Brexit-Zirkus hätten die Briten dann noch:
1. Harter Brexit
Wenn die Abgeordneten das Abkommen ablehnen, droht ein harter Brexit mit verheerenden Folgen für das Land, seine Bürger und die britische Wirtschaft. Theresa May erwähnte nach ihrer Rede im Parlament sogar, man rede mit der Pharmaindustrie, um einen Vorrat an Medikamenten zu sichern, sollte es zu einem harten Brexit kommen. Viele befürchten, dass die Märkte einbrechen könnten, das Britische Pfund könnte massiv an Wert verlieren, was sich auf die Inflation auswirken würde. Auch droht eine Warenknappheit, da Großbritannien auf Importe aus dem EU-Ausland angewiesen ist und vieles nicht selbst produziert.
2. Nachverhandlungen
Viele Abgeordnete fordern seit Tagen, dass mit der EU nachverhandelt wird, aber die EU lehnt das strikt ab. Man werde das Abkommen nicht nachverhandeln, sagte der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, als Reaktion auf die verschobene Abstimmung.
3. Misstrauensvotum
Abgeordnete der Opposition oder aber ihrer eigenen Partei könnten ein Misstrauensvotum initieren. Eine Initiative einiger Abgeordneter war innerhalb ihrer eigenen Partei aber bislang nicht erfolgreich. Um diesen Prozess von Seiten der Konservativen anzustoßen, müssten sich 48 Abgeordnete finden, die ein solches Votum unterstützen. Das entspricht 15 Prozent der Parlamentariergruppe. Diese 48 müssten dann in einem Brief ein Misstrauensvotum fordern. Alle konservativen Abgeordneten würden dann über die Zukunft der Premierministerin abstimmen.
Initiert die Opposition hingegen ein Misstrauensvotum und die Regierung gewinnt es, kann May weiter regieren. Verliert die Regierung, müsste May ersetzt werden. Wird auch die neue Regierung nicht akzeptiert, käme es zu Neuwahlen. Ein einflussreicher Labour-Abgeordnete äußerte aber bereits die Befürchtung, dass ein Misstrauensvotum durch die Opposition scheitern könnte. In den kommenden Tagen werde die Opposition entscheiden, ob sie sich zu diesem Schritt entschließt.
4. Neuwahlen
Es war in der Parlamentsdebatte mehr als deutlich: Die Opposition fordert Neuwahlen – und selbst Abgeordnete des eigenen Lagers könnten sich anschließen. Theresa May habe die politische Kultur des Landes beschädigt, sie würde ihre Macht über das Wohl des Landes stellen, waren nur einige der Vorwürfe, die ihr entgegenschlugen. Um aus der Sackgasse herauszukommen, könnte Theresa May Neuwahlen anstreben.
Das hat sie bereits einmal gemacht, allerdings mit einem verheerenden Ergebnis. In einer vorzeitig angesetzten Wahl im vergangenen Jahr, die eigentlich ihre Macht stärken sollte, verlor sie die absolute Mehrheit und wird seitdem von der nordirischen DUP gestützt. Für Neuwahlen bräuchte sie eine Zwei-Drittel-Mehrheit, sie kann die Neuwahlen nicht einfach ansetzen. Nach den Erfahrungen mit den letzten Wahlen, erscheint diese Option aber recht unwahrscheinlich.
5. Ein neues Referendum
Das Land ist tief gespalten, was die Entscheidung betrifft, aus der EU auszutreten. Andererseits gibt es erste kleine Anzeichen dafür, dass die EU-Befürworter die Mehrheit hinter sich hätten, käme es zu einem neuen Referendum, weil immer klarer wird, welche Auswirkungen der Austritt auf das Land haben könnten. Doch noch lehnt Premierministerin May diese Option strikt ab. Man könne nicht so oft abstimmen bis einem das Ergebnis passt, ist nur eines von vielen Argumenten gegen das Referendum. Andererseits werden die Stimmen derer, die ein neues Referendum fordern immer lauter und auch in Umfragen liegen die Remainer, also diejenigen, die in der EU bleiben wollen, vorne.
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Wenn die britische Regierung also nicht bald die Reißleine zieht, könnte das Land in einen harten Brexit taumeln, den am Ende niemand gewollt oder zumindest verursacht haben will. Doch für alles, was nicht so läuft, wie man sich das vorgestellt hat im Land, macht man seit längerem fast immer allein die EU verantwortlich. Diese Strategie aus dem Standardrepertoire britischer Politik könnte dann ein letztes Mal zum Einsatz kommen.
- Eigene Recherche