Die wichtigsten Fragen und Antworten Alles, was Sie zum Brexit-Referendum wissen müssen
Europa hält die Luft an: Seit 7 Uhr britischer Zeit stimmen die Bürger des Vereinigten Königreichs darüber ab, ob ihr Land die EU verlassen oder in der Gemeinschaft bleiben soll - eine wegweisende Entscheidung.
Inhaltsverzeichnis
- Warum stimmen die Briten über die EU-Mitgliedschaft ab?
- Woher kommt der Begriff Brexit?
- Was sind die Argumente der Brexit-Befürworter, was die der Gegner?
- Wer darf abstimmen?
- Was steht auf dem Wahlzettel?
- Was passiert am Tag der Volksabstimmung?
- Was sagen die Umfragen voraus?
- Wird es heute noch Kampagnen geben?
- Wann und wie wird das Ergebnis des Referendums bekannt gegeben?
- Wird es bei knappem Ausgang eine Neuauszählung geben?
- Ist das Ergebnis des Referendums bindend?
- Wird Schottland sich abspalten, falls es zum Brexit kommt?
- Wie wichtig ist Großbritannien für Deutschland als Handelspartner?
- Was denkt Londons City, was würde aus dem britischen Pfund?
- Was schätzt die EU an Großbritannien?
- Wird ein Austritt Großbritanniens einen Dominoeffekt bewirken?
- Was könnten Folgen für die Sicherheit sein?
- Brauchen Europäer im Brexit-Fall ein Visum, wenn sie nach Großbritannien wollen?
- Was ist für Großbritannien die Alternative zur EU?
Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Referendum und zu den Szenarien danach:
Warum stimmen die Briten über die EU-Mitgliedschaft ab?
Das Referendum ist eng mit dem Namen David Cameron verbunden. Der Tory-Premier löst damit ein Versprechen aus dem Jahr 2013 ein, das zu einem Gutteil innenpolitisch motiviert war. Forderungen danach kamen nicht zuletzt aus den Reihen seiner eigenen konservativen Partei. Aber auch das Erstarken der euroskeptischen Ukip auf der Insel spielte eine Rolle.
Zuletzt stimmten die Briten 1975 über eine Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ab. Seitdem habe sich die Gemeinschaft stark verändert, so die Begründung für das Referendum.
Woher kommt der Begriff Brexit?
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit. Es bezeichnet einen Austritt Großbritanniens aus der EU und ist nach dem Vorbild eines Grexit geprägt. Dieser Begriff für ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone entstand auf dem Höhepunkt der Griechenland-Schuldenkrise und wird dem Citigroup-Ökonomen Ebrahim Rahbari zugeschrieben. Das Wort "Bremain" - das einen Verbleib Großbritannien in der EU bezeichnet - konnte sich dagegen nicht durchsetzen.
Was sind die Argumente der Brexit-Befürworter, was die der Gegner?
Pro: Brexit-Befürworter wie der ehemalige Bürgermeister Londons Boris Johnson argumentieren, dass Großbritannien als drittgrößter Nettozahler in der Union ein Verlustgeschäft mache. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Kontra: Die Gegner eines Austritts warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde ein Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Wer darf abstimmen?
Stimmberechtigt sind britische und irische Bürger über 18 Jahre, die im Vereinigten Königreich leben, sowie alle Bürger des britischen Commonwealth, die das Recht haben, in Großbritannien zu leben. Auch britische Staatsangehörige im Ausland dürfen abstimmen. Sie müssen sich allerdings in den vergangenen 15 Jahren wenigstens einmal auf einer Wahlliste eingetragen haben. Dies gilt auch für Bürger von Nordirland.
Außerdem sind Bürger von Gibraltar, der britischen Enklave im südlichen Spanien, wahlberechtigt. Auch Mitglieder des britischen Oberhauses, die normalerweise bei Parlamentswahlen nicht abstimmen dürfen, können am Referendum teilnehmen. Die Wahlkommission sagt, bereits bis Dienstag hätten sich rund 46,5 Millionen Wähler registrieren lassen.
Was steht auf dem Wahlzettel?
Die Wähler sollen nur diese eine Frage beantworten: "Sollte das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?" Die Wähler können dann eine der beiden Antwortmöglichkeiten ankreuzen: "Mitglied der Europäischen Union bleiben" oder "Die Europäische Union verlassen".
Was passiert am Tag der Volksabstimmung?
Die Wahllokale haben von 7 Uhr bis 22 Uhr britischer Zeit geöffnet. Viele Wähler haben bereits per Briefwahl ihre Stimme abgegeben. Wahlbeamte in 382 Bezirken werden mit der Zählung unmittelbar nach Schließung der Wahllokale beginnen.
Was sagen die Umfragen voraus?
Umfragen deuten seit Wochen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Viele Wähler waren noch kurz vor dem Urnengang unentschlossen. Eine der letzten Erhebungen des Instituts YouGov sieht das Pro-EU-Lager beispielsweise mit 51:49 Prozent vorn.
Zuletzt hatte sich eine leichte Tendenz zum Verbleib in der EU herauskristallisiert. Dies würde die Beobachtungen bei anderen Unabhängigkeitsabstimmungen aus der Vergangenheit bestätigen: Kurz vor dem Urnengang gibt es häufig eine Bewegung der Wähler zur Erhaltung des Status quo.
Wird es heute noch Kampagnen geben?
Das Gesetz verbietet Kampagnen am Abstimmungstag nicht. Die politischen Parteien sind jedoch darin überein gekommen, darauf zu verzichten. Dagegen ist es eine Straftat, Nachwahlbefragungen vor dem Ende des Urnengangs um 22 Uhr zu veröffentlichen.
Wann und wie wird das Ergebnis des Referendums bekannt gegeben?
Die regionalen Zählstellen werden ihre Ergebnisse nach Manchester schicken. Der Vorsitzende der britischen Wahlbehörde wird dort das offizielle Ergebnis vermutlich am Freitag um 8 Uhr mitteleuropäischer Zeit verkünden. Dennoch könnte der Ausgang der Wahl bereits gegen 5 Uhr morgens feststehen, da die Medienanstalten die lokalen Ergebnisse nachzählen.
Wird es bei knappem Ausgang eine Neuauszählung geben?
Die Regeln erlauben keine nationale Neuauszählung. Aber die Gerichte können auf lokaler Ebene Neuauszählungen anordnen. Richter können das Gesamtergebnis innerhalb von sechs Wochen anfechten.
Ist das Ergebnis des Referendums bindend?
Nein. Das Parlament muss von Rechts wegen dem Abstimmungsergebnis nicht zwingend folgen. Aber es wird großen politischen Druck geben, es zu tun. Vor allem, wenn das Wahlergebnis eindeutig ist.
Wird Schottland sich abspalten, falls es zum Brexit kommt?
Umfragen zeigen, dass etwa zwei Drittel der Schotten in der EU bleiben wollen. Die Frage ist eng mit der nach einer schottischen Unabhängigkeit verknüpft. Im Falle eines Brexits könnte es zu einer zweiten Volksabstimmung über eine Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich (UK) kommen, kündigte Regierungschefin Nicola Sturgeon an. Ein erstes Unabhängigkeitsreferendum scheiterte 2014.
Irlands Premierminister Enda Kenny befürchtet eine Ansteckungsgefahr, sollte die britische Wirtschaft infolge eines Brexits schrumpfen. Nach den USA ist das Vereinigte Königreich der größte Importeur irischer Waren. Ein Drittel aller Importe nach Irland stammt aus Großbritannien. Spekuliert wird auch, dass es zwischen Nordirland und der Republik Irland wieder zu Grenzkontrollen kommen könnte.
Wie wichtig ist Großbritannien für Deutschland als Handelspartner?
Großbritannien ist Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Im vergangenen Jahr verkauften deutsche Unternehmen Waren im Wert von 90 Milliarden Euro in das Königreich. Trotzdem hält der Geschäftsführer der deutsch-britischen Außenhandelskammer (AHK), Ulrich Hoppe, die Gefahr für überschaubar. Dass es bei einem Brexit zu Zöllen oder Einfuhrbeschränkungen kommt, glaubt er nicht. Mehr Auswirkungen könnten langfristig andere Handelshemmnisse haben, beispielsweise unterschiedliche Standards in der Produktsicherheit. Doch auch hier habe Großbritannien mehr Schaden zu befürchten als Deutschland.
Was denkt Londons City, was würde aus dem britischen Pfund?
Die Folgen eines Brexits für den Finanzplatz London - die City - sind unter Experten wie Bankern umstritten. Eine Seite beschwört bereits den Untergang der Londoner City für den Austrittsfall, andere sagen ihr eine goldene Zukunft voraus, fernab von lästigen EU-Vorschriften. Befürchtet wird vor allem, dass zum Beispiel US-Banken nach Paris oder Frankfurt abwandern könnten, um ihre Finanzprodukte weiterhin ungehindert in EU-Staaten verkaufen zu können. Zudem könnte die Europäische Zentralbank versuchen, den lukrativen Handel mit Euro-Derivaten aus London abzuziehen. Das britische Pfund würde wohl zumindest kurzfristig an Wert verlieren.
Was schätzt die EU an Großbritannien?
Die EU ist durch die - nicht zuletzt von Großbritannien vorangetriebene - Erweiterung ein vielstimmiges Orchester geworden. Arme Länder haben andere Interessen als stark industrialisierte, neue Staaten andere als etablierte, südliche andere als nördliche. Für die Kernländer Deutschland und Frankreich ist Großbritannien trotz aller Unterschiede und Widerstände vor diesem Hintergrund ein Partner, der zwar selten als verlässlich angesehen wird, aber zumindest außen- und haushaltspolitisch ähnliche Grundinteressen vertritt. Außerdem wird Großbritanniens Funktion als diplomatische Atlantik-Brücke in die USA geschätzt.
Wird ein Austritt Großbritanniens einen Dominoeffekt bewirken?
Das ist die große Befürchtung in Brüssel. Ob es dazu kommt, ist offen. Tatsache ist: In vielen Ländern haben anti-europäische Strömungen zuletzt viel Zulauf bekommen. Die Bewegung der Nationalistin Marie Le Pen etwa in Frankreich, die AfD in Deutschland. In der europäischen Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber Brüssel nach Umfragen groß.
Auch wenn es nicht gleich zu Austritten kommt: Die Forderungen vieler Länder an Brüssel könnten mit der Androhung von Austritten viel mehr Nachdruck erhalten. Eine Umfrage des Instituts Ipsos in neun großen EU-Ländern hat ergeben, dass die Ansteckungsgefahr eines Brexits allgemein als hoch angesehen wird.
Was könnten Folgen für die Sicherheit sein?
Auch die nationale Sicherheit sehen die Brexit-Gegner in Gefahr. Polizei- und Geheimdienstinformationen könnten nicht mehr so leicht ausgetauscht werden wie bisher. Dies könnte angesichts der starken Dienste in Großbritannien auch Informationsverluste für Europa - etwa im Kampf gegen den Terror - bedeuten.
Auch der Europäische Haftbefehl, der die Übergabe von mutmaßlichen Tätern regelt, die in ein anderes EU-Land geflohen sind, würde womöglich außer Kraft gesetzt. Militärische Folgen sind dagegen kaum zu befürchten. Als Atommacht und enger Verbündeter der USA lehnt Großbritannien eine militärische Zusammenarbeit auf EU-Ebene ohnehin weitgehend ab.
Brauchen Europäer im Brexit-Fall ein Visum, wenn sie nach Großbritannien wollen?
Das ist für die meisten EU-Länder nahezu auszuschließen. Dennoch: Es müssten Einzelfallregelungen mit jedem Land zur Visumfreiheit geschlossen werden. Betroffen könnten auch Regelungen sein, die die EU mit Drittländern, aktuell gerade mit der Türkei, schließt. Sie würden dann möglicherweise nicht mehr für Großbritannien gelten. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Briten Übergangsfristen gelten lassen würden.
Großbritannien hatte 2004 bewusst mehr Osteuropäer ins Land gelassen als viele andere EU-Länder, weil das Land Arbeiter benötigte. Harte Regelungen nach einem Brexit würde ganze Branchen, etwa in der Hotellerie oder auf dem Bau, ausbluten lassen. Daran hat Großbritannien, das einen riesigen Investitionsstau im Hoch- und Tiefbau hat, kein Interesse. Allerdings warnen Experten, dass die Briten künftig für Reisen nach Europa ein Visum benötigen könnten.
Was ist für Großbritannien die Alternative zur EU?
Die Briten glauben, sie können sich künftig stärker an außereuropäische Länder binden. Die besondere Verbindung zu den USA spielt dabei eine Rolle, aber auch die Erinnerung an vergangene Großmacht-Zeiten als Kopf des British Empire. Dessen Überbleibsel ist der Commonwealth of Nations, mit vielen kleinen Mitgliedern, aber auch aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Indien. Gerade bei den Millionen von indischen Zuwanderern und ihren inzwischen britischen Nachfahren ist die Lust am EU-Ausstieg groß.