Ex-BMW-Volkswirt im Interview Autoexperte Becker: "Diesel-Fahrverbote werden definitiv kommen!"
Abgasmanipulationen, Kartell-Vorwürfe: Der Diesel und die deutschen Autohersteller haben ein Riesenproblem. Das sei hausgemacht, sagt der Ex-Chefvolkswirt von BMW, Helmut Becker, im t-online.de-Interview. Er kommt zu dem umstrittenen Schluss, dass man jetzt einen deutschen Diesel kaufen sollte.
Becker steht nach wie vor hinter der Dieseltechnik und rät Dieselfahrern deshalb auch, Ruhe zu bewahren. Gleichzeitig räumt er aber ein, dass die Zeit gegen die Verbrennungsmotoren arbeitet.
t-online.de: Herr Becker, die Negativschlagzeilen zum Diesel reißen nicht ab. Wie sehr ist das Image des einstigen Saubermanns angekratzt?
Helmut Becker: Das lässt sich schwer sagen. Fakt ist aber, dass ein Imageschaden entstanden ist. Das sieht man beispielsweise an den Zulassungszahlen: Die Diesel-Neuwagenverkäufe gehen zurück, der Marktanteil, der vor einem halben Jahr noch bei über 50 Prozent gelegen hat, ist unter 40 Prozent gerutscht. Weniger, weil das Image Schaden genommen hat, als vielmehr wegen der Verunsicherung der Käufer. Die wissen nicht mehr, ob und bis wann man noch Diesel fahren darf, oder auch in welche Städte man darf und in welche nicht. Das hält die Menschen von Diesel-Pkw-Käufen zurück.
1. Ist der Diesel wirklich die Dreckschleuder? Wo liegen seine Vorzüge zum Benziner?
Eine Dreckschleuder ist der moderne Diesel mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil: Seine Vorteile zum Benziner liegen darin, dass er bei höherer Leistung rund 30 Prozent weniger Sprit verbraucht und damit auch weniger CO2 ausstößt. Dafür bläst der Diesel allerdings mehr Stickoxid raus.
2. Gibt es dann den "sauberen Diesel", wie ihn Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann propagiert?
Ja, den gibt es tatsächlich. Die Diesel der neuesten Generation verbrauchen wie bisher deutlich weniger Kraftstoff als ein Benziner und durch den Einsatz von AdBlue-Harnstoff und der SCR-Katalysatortechnik liegt auch der Stickoxid-Ausstoß nahezu bei null. Sie sind sauber!
3. Was bedeutet AdBlue-Katalysator?
AdBlue ist ein Harnstoff, der in den Zusatzkatalysator SCR eingespritzt wird. Das SCR genannte chemische Verfahren sorgt dafür, dass durch den Einsatz von Ammoniak aus dem schädlichen Stickoxid Stickstoff und Wasserdampf werden. Der Clou zudem: Sie können heute dank Aufheiztechnik auch im kalten Zustand stickoxidfrei fahren. Bei den älteren Motoren gibt es ja noch das Phänomen, dass die Abgasreinigung bei niedrigen Temperaturen ausgeschaltet wird, um den Motor zu schützen. Dieses Problem umgehen die neuesten Dieselmotoren, indem der AdBlue und die Abgasanlage vorgewärmt werden.
4. Sie sprachen die Diesel der neuesten Generation an, wie steht es um den Altbestand?
Das ist die Achillesferse der Dieselautos: Wir haben in Deutschland rund 15 Millionen Diesel-Pkw. Davon entfallen – gerundet – zwei Millionen auf die Euro-6-Abgasnorm und drei Millionen auf die Euro-5-Abgasnorm. Letztere werden nun durch die beim jüngsten Dieselgipfel in Berlin erzielte Einigung mit Software-Updates sauberer gemacht. So gesehen, haben wir dann in Deutschland immer noch einen Altbestand an wirklichen Dieseldreckschleudern von zehn Millionen Fahrzeugen. Diese Altlasten sind die wahren Luftverschmutzer.
5. Was spricht für den Diesel im Vergleich zum Elektromotor?
Stand heute ganz einfach: Komfort und Bequemlichkeit. Er hat etwa bei den Themen Reichweite, Tankstellennetz und Tankzeit deutliche Vorteile gegenüber dem Elektromotor. 1000 Kilometer fahren ohne nachtanken? Das können Sie mit keinem Elektroauto. Da liegen die durchschnittlichen Reichweiten heute etwa bei etwa 200 bis 300 Kilometer, wenn überhaupt. Blitzstarts und Klimaanlage sind dann aber nicht mehr drin! Dann müssen Sie eine E-Tankstelle suchen und wenn Sie sie gefunden haben, dauert der Ladevorgang etwa zehn Mal länger als beim herkömmlichen Verbrenner. Diese Ansammlungen von negativen Faktoren verhindern bisher den großen Durchbruch des Elektroautos.
6. Haben die deutschen Hersteller hier die E-Entwicklung verschlafen?
Nein, eindeutig nicht. Es gibt genügend Modelle am Markt, fast mehr sogar als Käufer (lacht). Was die Anzahl der Modelle anbelangt ist Deutschland weltweit sogar Leitmarkt. Was die Hersteller vielmehr verschlafen haben, ist, dass sie die AdBlue-Technologie nicht schon viel früher in alle Diesel-Modelle eingebaut haben. Die Technologie ist in Deutschland seit dem Jahr 2003 genormt und eingesetzt. Sie hat sich anfangs nur nicht durchgesetzt, die Nachfrage war nicht da. Dazu hat der strategische Weitblick bei den Konzernen gefehlt. Hätte man an der Technik dennoch damals festgehalten, würde man jetzt nicht diese ganze Diesel-Diskussion führen müssen – von den Abgasmanipulationen und Trickserien einmal ganz abgesehen.
7. Stichwort Abgasmanipulationen: Beim "Diesel-Gipfel" einigten sich Hersteller, Wirtschaftsverbände und Politik auf ein Software-Update für mehr als 5 Millionen Pkw. Die Kritik vor allen von Verbraucher- und Umweltschützern, die nicht zum Gipfeltreffen eingeladen wurden, ist nach wie vor groß. Was bringen in Ihren Augen die Software-Updates?
Die Kritik ist da – und auch berechtigt. Die Software-Updates waren ganz einfach das, was man angesichts der Menge an Fahrzeugen auf die Schnelle durchsetzen konnte. Fünf Millionen Fahrzeuge nachzubessern, dauert seine Zeit. Kämen da auch noch so genannte Hardware-Nachbesserungen durch Einbau der SCR Katalysatoren hinzu, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen – wenn auch der logisch-richtige Schritt, um das Vertrauen der Diesel-Fahrer wiederherzustellen. Was jetzt beschlossen wurde, wird dafür mit Sicherheit nicht reichen!
8. Wäre eine AdBlue-Nachrüstung technisch für alle überhaupt möglich gewesen?
Jein, bei den ganz alten Dieseln nicht, auch weil die Einbau- und Nachrüstkosten von 1000 bis 1500 Euro bei manchem Diesel-Pkw den eigentlichen Wert des Autos überstiegen hätten. Für diese Alt-Diesel wäre eine Art Abwrackprämie á la 2009 sinnvoller gewesen: Das alte Auto in Zahlung nehmen und verschrotten beim Kauf eines Diesels der neuesten Generation.
9. BMW, Ford und nun auch VW bieten ihren Kunden solche Abwrackprämien bereits an...
Ja, ich halte das auch für einen sehr sinnvollen Weg. Die Abwrackprämie in der Finanzkrise hat das bereits gezeigt. Allerdings hätte man sich auch dazu auf dem "Diesel-Gipfel" bereits verständigen können. Es geht nämlich nur mit Autoherstellern und Politik gemeinsam. Beide Seiten haben da klipp und klar versagt. Der Mut hat wohl gefehlt. Schade.
10. Die Politik sagt, das Software-Update sei nur der erste Schritt, weitere würden folgen. Will man das Thema Diesel-Skandal aus dem Wahlkampf heraushalten? Spielt sie nur auf Zeit?
Ja! Fakt ist, dass das Software-Update die einzige schnelle Maßnahme ist, eine Lösung ist sie aber nicht. Alles andere kostet Zeit und Geld, ist aber auch machbar, wenn der Wille dazu da wäre. Ich prognostiziere Ihnen: Das Thema landet garantiert noch in diesem Jahr wieder auf der Agenda der Umweltverbände und Gerichte - wenn der Winter kommt und die Abgas- und Luftsituation in den Städten traditionell besonders schlecht ist. Alle dann durchgeführten Messungen werden zeigen, dass man trotz Nachbesserungen weit über den zulässigen Grenzwerten liegt. Dann sind ruck zuck die Fahrverbote in den deutschen Innenstädten wieder Thema! Noch haben die Politik, der Branchenverband VDA und vor allem die Hersteller selber Zeit, sich etwas auszudenken, um dieses Szenario abzuwenden.
11. Wird es Fahrverbote geben?
Die Drohung steht ganz klar im Raum, und das ist auch gut so! Nicht nur Eltern wissen: Wer droht, muss auch bereit sein, diese in die Tat umzusetzen, denn sonst passiert nichts. So gesehen, denke ich, dass die Fahrverbote, gerichtlich angeordnet, kommen werden. Spätestens im Winter!
12. Wer sind die Profiteure des Diesel-Skandals?
Profiteure sind klarerweise die Autohersteller, die heute schon absolut saubere Diesel im Programm haben wie BMW und Daimler oder die keine Diesel im Programm oder eine vom Markt nachgefragte alternative Antriebstechnik im Angebot haben. Dazu zählen natürlich auch ausländische Autobauer mit Hybrid-Fahrzeugen.
13. Und die Verlierer?
Verlierer sind vor allem die Verbraucher, die von einem Fahrverbot in den Innenstädten betroffen wären: Handwerker, kleine Lieferdienste beispielsweise oder Taxi-Fahrer. Klar ist aber auch, dass man konsequent bleiben muss: Will man saubere Luft, müssen alle mit ins Boot genommen werden. Keine Ausnahmen dann! Alt-Diesel müssen stillgelegt, die Besitzer nach dem Zeitwert entschädigt oder von den Herstellern mit einem neuen Dieselauto gegen Zuzahlungen versorgt werden.
14. Nun prüft die EU-Kommission auch mögliche Kartell-Vorwürfe gegen die deutschen Autobauer Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen. Ist an den Vorwürfen Ihrer Meinung nach etwas dran?
Ob es Absprachen zwischen den Unternehmen außerhalb der zahlreichen offiziellen Arbeitskreise und Ausschüsse beim Branchenverband VDA gab, die unter das Kartellrecht fallen, entzieht sich meiner Kenntnis. Persönlich glaube ich zwar, dass man sich gelegentlich getroffen hat, aber nicht um böswillige Kartellabsprachen zu vereinbaren. Kartelle im eigentlichen Sinn dienen dazu, höhere oder niedrigere Preise durchzusetzen, als es der Markt zulassen würde, etwa beim Ver- oder Einkauf. Die Absprachen, um die es bei den Autoherstellen aktuell zu gehen scheint, sind aber technischer Natur: Es geht um technische Normen, die dann vereinheitlicht werden und für alle Hersteller gelten. Eine Schädigung der Kunden liegt meines Erachtens dabei nicht vor.
15. Dennoch, das Image "Made in Germany" bekommt durch den ganzen Hickhack um den Diesel doch Kratzer...
Naja, ich bin Ökonom und deshalb rationaler eingestellt: Das Ausland lacht sich derzeit tot darüber, "wie sich die Deutschen selbst verprügeln", indem sie sich ihre eigenen Topprodukte madig machen. Aber letzten Endes werden auch weiterhin deutsche Produkte und auch Autos gekauft. Vielleicht sinkt der Anteil an Diesel-Pkw, aber dafür wächst dann der der Benziner. Am Jahresende wird die Zahl der Neuzulassungen hierzulande und auch weltweit weiter gestiegen sein.
16. Der Diesel ist vor allem in Deutschland und Europa gefragt, in den USA sowie China als wichtigsten, weil weltgrößten Absatzmarkt fährt er kaum oder gar nicht auf den Straßen. Ist der Diesel ein Auslaufmodell?
Nein, auf keinen Fall. Allerdings muss man erkennen, dass generell die Zeit gegen den Verbrennungsmotor läuft. Paris will ältere Diesel, Stichjahr 2001, aus der Stadt verbannen, Großbritannien ab 2040 gleich alle Verbrenner. Allerdings wird die Zeit erst zeigen, ob es bis dahin eine wirkliche, massentaugliche Alternative zum Verbrennungs- und damit auch zum Dieselmotor geben wird.
17. Was sollten Diesel-Fahrer jetzt beachten?
An der Börse heißt es, wenn die Kanonen donnern, sollte man kaufen (lacht). Das gilt in diesem Fall auch für den Automarkt. Die sinkende Nachfrage sorgt bei den Herstellern für Preisdruck und fallende Preise. Relativ betrachtet, spare ich heute bei einem Neuwagenkauf eines sauberen Diesels im Vergleich zum Benziner also Geld. Gleichzeitig erkaufe ich mir mit einem Diesel-Neuwagen auch die Gewissheit, weiterhin in Innenstädten fahren zu dürfen. Ich sprach es bereits an: Die neueste Diesel-Generation ist sauber und erfüllt alle gesetzlichen Vorgeben. Ich persönlich würde mir heute einen neuen Diesel kaufen und dabei einen hohen Rabatt heraus handeln.
18. Man kann also ruhigen Gewissens noch einen deutschen Diesel-Pkw kaufen?
Absolut! Und die Klugen tun das auch.
Helmut Becker war Chefvolkswirt von BMW. Seit 1998 leitet er das Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK) in München. Er berät Industrieunternehmen und Dienstleister in strategischen sowie wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen. Wegen seiner jahrzehntelangen Tätigkeit in der Autoindustrie sowie als Ökonom gilt er als ausgemachter Fachmann der Branche.