Kunden-Ärger und Abwimmel-Hotline "Elon wollte gute Werte": Rechnet Tesla die Reichweiten schön?
Tesla ist eine der beliebtesten Marken für E-Autos, auch wegen der hohen Reichweite. Doch offenbar wird diese aufgebläht.
Als sich Alexandre Ponsin im März mit seiner Familie auf den Weg von Colorado im Westen der USA ins 1.770 Kilometer entfernte Kalifornien macht, vertraut er auf die Reichweite seines neuen Tesla Model 3. Er geht davon aus, dass das E-Auto Baujahr 2021, das er gerade gebraucht gekauft hat, bei vollem Akku die von Tesla versprochenen 353 Meilen (568 Kilometer) schafft, dem zumindest nahe kommen wird.
Doch dann traut er seinen Augen nicht: "Man schaut auf die Reichweitenanzeige und sieht, wie die Zahl buchstäblich vor den Augen sinkt." Ponsin kontaktiert daraufhin den US-Elektroautobauer und bucht einen Servicetermin. Was er zu dem Zeitpunkt nicht weiß, ist, dass Tesla ein spezielles Team eingerichtet hat, das solche Kundenbeschwerden abwimmeln soll.
Insidern zufolge gründete Tesla im vorigen Sommer in aller Stille ein sogenanntes "Diversion Team" in Las Vegas. Dessen Auftrag sei es gewesen, Kunden, die sich über eine schlechte Reichweite beschwerten, davon abzuhalten, ihren Wagen zur Wartung zu bringen, berichteten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen.
Abgesagte Servicetermine – Tesla spart rund 1.000 Dollar
Denn die Service-Center von Tesla seien mit Terminanfragen von Kunden überflutet worden, die sich über die zurückgelegten Kilometer ihrer Fahrzeuge beklagt hätten. Vorgabe an das Team sei gewesen, etwa 750 Fälle dieser Art pro Woche zu erledigen. Dabei wurde ermittelt, wie viele Servicetermine ein Mitarbeiter an einem Tag durchschnittlich abwenden konnte.
Wenn ein Kunde einen Servicetermin tatsächlich absagte, hätten das manche Mitarbeiter gefeiert, indem sie ihr Telefon stumm stellten und auf ein Glockenspiel schlugen, beschrieben Insider Szenen des Teams in Nevada.
Sie hätten sich gegenseitig applaudiert und manchmal sogar auf den Tischen gestanden. Manager hätten den Beschäftigten gesagt, Tesla spare etwa 1.000 Dollar für jeden abgesagten Termin. Außerdem nehme jede Absage den Druck von den überlasteten Service-Zentren.
Dabei hätten die Autos in den meisten Fällen keine Reparatur wegen der geringeren Reichweite gebraucht, erläuterten mehrere Personen. Eine davon sagte, Tesla-Chef Elon Musk habe selbst die Vorgabe gemacht, dass die Reichweiten bei voller Batterie optimistischer dargestellt werden sollten als sie es tatsächlich waren.
"Elon wollte, dass bei voller Ladung gute Reichweitenwerte angezeigt werden", erzählte der Insider. "Wenn man ein Auto kauft und eine Reichweite von 350 oder 400 Meilen sieht, hat man ein gutes Gefühl." Weder Tesla noch Musk antworteten auf Fragen von Reuters zu diesem Bericht.
Hohe Reichweite ist für viele ein Kaufkriterium
Wie viele Kilometer ein E-Auto ohne Stopp an der Ladesäule schafft, gehört zu den wichtigsten Kriterien für Verbraucher, welches Fahrzeug sie kaufen oder ob sie sich überhaupt ein batteriebetriebenes Auto zulegen.
Die sogenannte Reichweitenangst – die Sorge, dass einem der Strom ausgeht, bevor man die nächste Ladestation erreicht – ist für viele ein Hindernis, sich ein Elektrofahrzeug zuzulegen. Wie weit ein E-Auto mit einer Batterieladung fahren kann, hängt von vielen Faktoren ab. Mit entscheidend ist die Jahreszeit, also, ob es kalt oder warm ist, und ob die Klimaanlage läuft.
Tesla habe sich schon vor etwa einem Jahrzehnt entschlossen, Algorithmen für die Reichweitenanzeigen im Armaturenbrett der Autos zu schreiben, sagte eine Person, die mit einem frühen Design der Software vertraut ist. Sie sollten den Fahrern "rosige" Prognosen für die Entfernung anzeigen, die sie mit voller Batterie zurücklegen können.
Dahinter hätten Marketingerwägungen gestanden. Reuters konnte nicht feststellen, ob Tesla solche Algorithmen noch verwendet, die die Reichweitenprognosen verbessern. Kfz-Tester und Aufsichtsbehörden werfen dem Unternehmen allerdings weiterhin vor, bei den Angaben zu übertreiben.
Tesla holt bei Reichweiten-Tests das "Bestmögliche" heraus
Bei den Reichweitenwerten, die in den USA nach der EPA-Norm ermittelt werden, soll Tesla laut Experten nicht täuschen. Vielmehr hole der Autobauer bei den von der US-Umweltbehörde vorgeschriebenen Tests das Bestmögliche heraus. "Ich behaupte nicht, dass sie betrügen", sagte Gregory Pannone, Mitautor einer Studie, die die Reichweitenangaben von 21 Elektro-Marken untersucht hat, darunter auch von Tesla. Er bezeichnete Tesla als "den aggressivsten" Hersteller, wenn es um Reichweitenberechnungen von Elektrofahrzeugen geht.
Tesla führe bei all seinen Modellen zusätzliche Reichweitentests durch. Im Gegensatz dazu verließen sich viele andere Autohersteller, darunter Ford, Mercedes und Porsche, auf eine Formel der EPA, um die potenzielle Reichweite ihrer E-Autos zu errechnen, wie aus Daten für 2023er Modelle hervorgehe. Dies führe im Allgemeinen zu konservativeren Schätzungen, erläuterte Pannone, ein pensionierter Industrie-Veteran. Mercedes-Benz teilte auf Anfrage mit, der Konzern verwende die EPA-Formel, weil sie genauere Schätzungen erlaube. Ford und Porsche antworteten nicht auf Anfragen.
Als Tesla-Fahrer Alexandre Ponsin nach seiner Reise im März Kalifornien schließlich erreichte, hatte er etwa ein Dutzend Mal angehalten, um die Batterie seines Model 3 aufzuladen. Nach mehreren vergeblichen Service-Anfragen erhielt er von Tesla eine SMS. In der hieß es, die in solchen Fällen übliche Ferndiagnose seines Fahrzeugs habe ergeben, dass die Batterie "in gutem Zustand" sei. "Wenn Sie keine weiteren Bedenken haben, möchten wir Ihren Besuch vorerst absagen." Zufrieden war Ponsin damit nicht. "Natürlich habe ich immer noch Bedenken", schrieb er zurück. "Mit einer vollen Ladung habe ich eine Reichweite von 150 Meilen!"
- Nachrichtenagentur Reuters