Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ein Lehrer berichtet Dieses Phänomen verbreitet sich wie ein Virus
Amokläufe, Mobbing, Gewalt: Schulen sind zu Brennpunkten geworden. Doch woran liegt das? Der t-online-Kolumnist und Lehrer Bob Blume hat eine Erklärung.
Wissen Sie, warum das Land Bayern verbietet, Chips zu verkaufen? Warum in den letzten Wochen Schultoiletten gesprengt worden sind? Oder warum vor einiger Zeit junge Leute mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus gekommen sind? Hinter der Antwort auf diese Fragen verbirgt sich ein Netzwerk: TikTok.
In sogenannten Challenges stacheln sich junge Leute gegenseitig an, alberne, witzige, aber eben auch oftmals lebensgefährliche Herausforderungen anzunehmen, und diese dann mit ihrer Followerschaft zu teilen. In zahlreichen Schulen wurden diese Challenges bekannt, weil es eben eine dieser Challenges war, die Schultoiletten zu vandalieren.
Bei der sogenannten Skullbreaker-Challenge zogen zwei eingeweihte Personen einer anderen, die sich im Sprung befand, die Beine weg. Die Folge: schlimme Kopfverletzungen. Und zuletzt war es eben im Trend, so scharfe Chips zu essen, dass der Konsum zu Krankenhausaufenthalten geführt hat. Der Grund, warum Bayern diese superscharfen Chips verbietet, ist also schlicht Jugendschutz.
Bob Blume
Bob Blume ist Lehrer, Blogger, Podcaster und Aktivist. Er schreibt Bücher zur Bildung im 21. Jahrhundert und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam. In seiner Kolumne für t-online kommentiert er aktuelle Bildungsthemen mit spitzer Feder und Rotstift im Anschlag. Man findet Blume auf Twitter und auf Instagram, wo ihm über 100.000 Menschen folgen. Sein Buch "10 Dinge, die ich an der Schule hasse" ist überall erhältlich.
Hier geht's zu Blumes Instagram-Auftritt.
Pubertät und Suche nach Anerkennung als Erklärung?
Wer auf der Grundlage dieser Informationen meint, "die heutige Jugend" als Generation zu verurteilen und zu verlachen, dem seien zwei Hilfen ans Herz gelegt. Zum einen die Erinnerung an all jene Erfahrungen, von denen man heute glücklich sein kann, dass sie niemand auf Video aufgenommen hat. Dass die Pubertät das Gehirn zeitweise in ungünstige Regionen katapultiert, hat sich über die vergangenen 100 Jahre nicht geändert.
Zum anderen sei der Leser an das Gefühl erinnert, als das letzte Mal ein ehrlich gemeintes Lob über ihm ausgeschüttet wurde. Das mag sich weit hergeholt anhören, aber soziale Medien sind vor allem das: Gefühlsmaschinen, die Konsumenten und Produzenten im angenehmen Gefühl des Lobes baden lassen.
Für ein Lob der Masse tun Content-Creators noch weit mehr, als sich nach einem überscharfen Chip in einen Eimer zu übergeben. Fake News und Fehlermeldungen, vermeintlich unterhaltsame Challenges oder das Zeigen von Gewalt sind zwar in vielen Fällen politisch, oftmals geht es aber schlicht und einfach darum, ein Gefühl der Wichtigkeit zu erlangen.
Reiz des Viralen können viele nicht nachempfinden
Wo aber das Mittel zum Zweck wird und der Zweck nicht ersichtlich ist, wird es unübersichtlich. Vor allem in einem Alter, in dem man orientierungslos ist und auf der Suche nach Vorbildern. Oder dabei ist, Ziele zu verfolgen, die einem den schnellen Erfolg versprechen.
Dies werden auch jene von uns, die sich ungern und mit peinlichem Gefühl an die Verfehlungen einer nicht aufgezeichneten Kindheit erinnern, nicht nachempfinden können: wie attraktiv der Reiz ist – auch für eine stupide Aktion – ein paar Stunden gefeiert zu werden.
Was dabei aber nicht vergessen werden darf, dass es erst die Aufzeichnung ist, die tausend- oder millionenfach skaliert wird. Im Falle von Gewaltvideos oder bedrohlichen Challenges kann man wortwörtlich von viralen Videos sprechen. Viral, weil sie so oft gesehen werden. Viral aber auch, weil die Darstellung von Blödheit sich allenthalben verbreitet wie ein globaler Virus.
Schulen sind Orte, an denen das Denken verändert werden kann
Während sich die Weltbilder von Erwachsenen schon so zementiert haben, dass es schier unmöglich scheint, jemanden von noch so irrigen Annahmen abzubringen, sind Schulen die Orte, an denen man diese "Denkpest" bekämpfen kann. Und muss.
Denn auch wenn es schwierig und vielleicht sogar kontraproduktiv ist, eine allzu eindeutige Linie zwischen dem Internet und gerade momentan ausufernder Gewalt an Schulen zu sehen, berichten Schülerinnen und Schüler, wenn man sie darauf anspricht, von einem solch hohen Maß an Gewalt, gewaltverherrlichenden Inhalten und unterhaltsam verpackten Videos, dass es nach diesem problematischem "Selbststudium" immer schwieriger wird, dem in ein paar Minuten in der Schule Herr zu werden. Wozu das im schlimmsten Fall führen kann, konnte man jüngst bei der Gewalttat in Offenburg sehen, bei der ein 15-Jähriger einem Mitschüler in den Kopf schoss (wie eine Expertin das Geschehen einordnet und welche Rolle soziale Medien ihrer Meinung nach spielen, lesen Sie hier).
"Tiefgreifende Schädigung der Demokratie"
Es ist jetzt schon ein Kampf gegen Windmühlen. Um es noch deutlicher zu machen: Wenn junge Menschen auf Knopfdruck über Stunden mit schädigenden Informationen manipuliert werden, dann müssen wir von einer tiefgreifenden Schädigung der Demokratie sprechen.
Und zwar nicht durch chinesische Konzerne oder Plattformen, die von Milliardären geleitet werden, die den moralischen Kompass verloren haben. Sondern schlicht durch den Sog von Bewegtbildern, denen sich junge Gehirne nicht entziehen können. Das heißt nun nicht, dass wir das Internet verteufeln sollen. Warum auch? Es ist so allgegenwärtig wie Elektrizität.
Und natürlich bietet es immer noch fantastische Möglichkeiten, sich kreativ auszuleben, sich mit Menschen zu vernetzen und andere zu inspirieren. Aber wenn Medienerziehung weiterhin so schleppend in den Schulen Einzug erhält und zwischen Stoff und Prüfung an den Rand gedrängt wird, dann verlieren wir tatsächlich unsere Kinder, wie der Bestseller der Schulleiterin der Waldschule Hatten, Silke Müller, heißt.
Neben vielen guten Tipps zum Umgang mit Medien hat die Schulleiterin auf ihrer Schule eine Antwort gegeben, die deutschlandweit kopiert werden sollte: Social-Media-Sprechstunden für die ganze Schule.
Ob dies reicht, es ein Fach bräuchte oder ob nicht der Zeitpunkt gekommen ist einzusehen, dass die Digitalisierung jeden Teil unseres Lebens erreicht und so auch in jedem Schulfach thematisiert werden sollte, möge jeder Leser selbst entscheiden. Vielleicht im Gedanken an eine Jugendsünde, von der man heute noch froh ist, dass sie auf keiner Plattform gesehen werden kann.