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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schulverweigerung Schulverweigerung: Wenn Jugendliche die Schule boykottieren
Wie mehrere Statistiken zeigen, verlassen rund zehn Prozent eines Geburtenjahrgangs in Deutschland die Schule ohne Abschluss. Das sind mehr als 80.000 Jugendliche pro Jahr. Das Phänomen Schulmüdigkeit bis hin zu Schulverweigerung nimmt zu. Das bedeutet extrem schlechte Berufsaussichten für die Betroffenen, einen Verlust an gut ausgebildeten Arbeitskräften für die Gesellschaft und für die Eltern der Schulabbrecher große Sorgen um deren Zukunft. Was können Schule, Eltern und die Schüler selbst tun, um doch noch die Kurve zu kriegen? Was läuft an unseren Schulen schief?
"Meiner Lehrerin hat es dann gereicht, dass ich immer keine Hausaufgaben hatte. Dann hat sie meinen Namen an die Tafel geschrieben und man hatte drei Chancen: Am ersten Tag ohne Hausaufgabe wird man angeschrieben, am zweiten Tag wird man eingekreist und am dritten Tag, wenn du die Hausaufgaben immer noch nicht hast, kriegst du eine Sechs. Ich hab tagtäglich mindestens eine Sechs kassiert, das haben alle mitbekommen. Dann bin ich irgendwann nicht mehr hingegangen.“ So beschreibt eine Schülerin, wie sie in die Schulverweigerung hineinrutschte. Es ist ein klassischer, sehr typischer Weg.
Schulvermeidung ist ein Symptom, hinter dem sich ungelöste Konflikte wie individuelle, familiäre, soziale oder schulstrukturelle Probleme verbergen. Es können Dinge wie Mobbing, Sprachprobleme, häusliche Gewalt, extremer Medienkonsum, Förderbedarf oder Krankheiten dahinter stecken.
Kritische Phase Pubertät
Das Phänomen tritt in der Regel mit der Pubertät, Ende der sechsten, Anfang der siebten Klasse auf und erreicht seinen Höhepunkt in der achten. Das jedoch ist nur das wahrgenommene Einstiegsalter. Die Wurzeln der Probleme wachsen früher. Die Unlust, das Tagträumen, häufige Krankheitstage, die vorausgehen, werden noch nicht als Schulverweigerung wahrgenommen, können jedoch in der Rückschau als Vorboten beurteilt werden.
Frühwarnzeichen für Schulverweigerung
Meist sind es erst nur die Randstunden, die geschwänzt werden, dann bestimmte, ungeliebte Fächer, später ganze Schultage: Viele der Indikatoren sind für sich allein genommen normale "Ausreißer" im Schulalltag, die noch nicht sonderlich beunruhigen. Summieren sie sich aber, sollten Lehrer aufmerksam werden. Das sind die wichtigsten Frühwarnzeichen:
- viele Verspätungen und Fehlzeiten mit zweifelhaften Entschuldigungen oder komplett unentschuldigtes Fehlen
- deutlicher Leistungsabfall
- passives Verhalten: ständiges Träumen, innerliches "Ausklinken", Inaktivität, häufiges Aufsuchen der Toilette
- Aufmerksamkeit erregen: Herumlaufen, provozierend lässiges Benehmen
- abweichendes Sozialverhalten: Sachbeschädigungen, Belügen der Lehrer
- keine Integration in den Klassenverband
"Man kann es frühzeitig bemerken", erklärt der Pädagoge Thorsten Bührmann von der Universität Paderborn, "diese Kinder sind dann auch bei anderen Gelegenheiten abwesend, sie klinken sich beispielsweise auch aus den Gesprächen am Familien-Esstisch aus."
Persönliche Beziehungen sind entscheidend
Für Bührmann, der für seine Projekte betroffene Kinder und Lehrer interviewt hat, liegt der Knackpunkt in den Beziehungen zu Eltern, Lehrern und Gleichaltrigen. "Habe ich Menschen, von denen ich wert geschätzt werde? Vor denen ich mich nicht verstellen muss? Finde ich das nicht bei Eltern und Lehrer, dann suche ich mir das in der Peergroup." Ist es in der Clique cool zu schwänzen und schon vormittags Bier zu trinken, ist der Schritt zum eigenen Schuleschwänzen klein, denn hierfür gibt es Anerkennung von der Gruppe.
Wie verbreitet ist Schulverweigerung?
Betroffen sind vor allem Schüler der Haupt-, Real- und Förderschulen, doch nicht wenige durchliefen vorher einige andere Schulen. Nicht wenige starteten auch am Gymnasium und durchliefen als hartnäckige Schulverweigerer hinterher drei oder vier weitere Schultypen.
Besonders gefährdet sind Kinder aus Familien, in denen entweder der Leistungsdruck extrem hoch ist oder aber umgekehrt eine "Alles-egal-Haltung" vorherrscht. Beides gilt quer durch alle Schichten. Schulverweigerung betrifft außerdem besonders stark Familien mit Migrationshintergrund, sozial schwache Familien und solche ohne klares Regel- und Wertesystem. Aber auch sozial unauffällige Familien können betroffen sein.
Kritische Phasen sind Brüche in der Biographie also Umzüge, Schulwechsel oder Todesfälle in Familie und Freundeskreis. Grundsätzlich eignen sich alle Situationen, die mit dem Verlust von Bezugspersonen verbunden sind, als Auslöser einer Schulverweigerung. Eltern sollten rechtzeitig gegensteuern. Selbst gut gemeinte kleine Notlügen, wie das eigenmächtige Verlängern der Ferien oder mal eine Gefälligkeitsentschuldigung bei bloßer Unlust auf Schule, können die Kinder in der Schulmüdigkeit bestärken.
Schulunlust überträgt sich oft vom Lehrer auf die Schüler
Beziehungen, Partizipation und Perspektiven, das bräuchten junge Menschen, so das Fazit von Thorsten Bührmanns Forschungen. Er berät Schulen in der gesamten Bundesrepublik. Die meisten Anfragen laufen bei ihm ein, wenn gerade wieder ein Amoklauf war. "Schule muss wieder Lern- und Lebensraum werden, für Lehrer und Schüler", ist der Pädagoge überzeugt. Wenn er bei Fachtagungen den Lehrern Fragen stellt, ob sie gern zur Schule gängen und sich auf die Schule freuten, so würden diese Fragen oft verneint. Das übertrage sich dann auf die Schüler, so Bührmann.
Überforderte Lehrer
Er beobachtet bei den Lehrern oft eine große Hilflosigkeit. "Die sind völlig überfordert, die Chaoten der Klasse im Zaum zu halten, die schulmüden Kinder stören ja nicht", so Bührmann, "aber wenn ein Kind ein halbes Jahr nicht beachtet wird, dann fühlt es sich nicht wertgeschätzt, dann geht es da auch nicht mehr hin." Lehrer müssen sofort nachfragen, zeigen, dass jeder Schüler wichtig ist. "Die kurze Frage: 'Was ist los, du bist so still?', genügt schon als Einstieg."
Eltern sind in der Pflicht
Daneben sind aber vor allem die Eltern per Gesetz verantwortlich, auf die Einhaltung der Schulpflicht zu achten. Je nach Bundesland droht den Eltern von Schulschwänzern ein Bußgeld oder Besuch von der Polizei, die den Jugendlichen zur Schule bringt. Das Elternhaus spielt die wichtigste Rolle in dem Beziehungs-Geflecht. "Alle müssen an einem Strang ziehen", fordert die Psychologin Katharina Fuchs von der Universität Eichstätt. Kooperation von Elternhaus, Schule und Jugendlichem statt Schuldzuweisung.
Wichtig ist dabei die Vermittlung zwischen den Parteien. Pädagoge Thorsten Bührmann hat in seinem Buch "Erfolgreicher Umgang mit schulmüden Jugendlichen und Schulverweigerern" Strategien für Elterngespräche zusammengestellt. Für dieses Buch wurden betroffene Schüler, Lehrer und Sozialarbeiter interviewt. Der Autor kritisiert: "Es findet kaum Elternarbeit statt, wenn dann in Form von Konfrontation und Schuldzuweisung."
Feste Vereinbarungen sind wichtig
Eltern und Schule müssen zusammenarbeiten, um den Jugendlichen zu stärken und ihn Schritt für Schritt wieder einzugliedern, ohne ihn zu unter- oder überfordern. Gute Leistungen zu loben, ist eine der ersten Übungen, die so manche Eltern erst erlernen müssen, ebenso aber auch die Kontrolle der Aufgaben und die Einhaltung getroffener Vereinbarungen. Es ist eine Art Vertrag, den die Partner schließen und der dokumentiert, das sich alle Seiten gegenseitig ernst nehmen.
Bührmann berichtet von äußerst positiven Reaktionen, wenn Lehrer das Elternhaus besuchen, soweit es sich anbietet. Ein kurzes Gespräch mit dem Schüler vor dem Unterricht motiviert und zeigt ihm: Du wirst wahrgenommen, du gehörst dazu und bist wichtig.
Die handlungsorientierte Schule
"Wir brauchen handlungsorientierten Unterricht", fordert Bührmann, "die Schüler wollen etwas tun und schaffen." Schon kleine Dinge können hier große Wirkung entfalten. Ein Plakat gestalten oder einmal als Lehrer selbst einen Unterricht gestalten, solche Kleinigkeiten empfanden die befragten Schüler als Highlights ihres Unterrichts. Sie steigern das Selbstwertgefühl und schaffen Erfolgserlebnisse. Denn den Schüler vermitteln diese Aussagen das Gefühl, dass die Lehrerin ihnen etwas zutraut, sie unterstützt und wertschätzt.
Es gibt zahlreiche erfolgreiche Projekte, wie Schülerfirmen, Produktionsschulen, Werkstattschulen oder Kooperationen mit Betrieben der Region, doch gibt es zwischen den einzelnen Projekten kaum Erfahrungsaustausch. Jeder beginnt von Neuem.
Schule als Lebensraum
Die Hauptforderung, so formuliert es die Psychologin Katharina Fuchs ist eine andere Ebene der Schule und des Verhältnisses zwischen Schüler und Lehrer herzustellen: Nicht nur Lernstoff vermitteln, sondern Schlüsselkompetenzen wie Teamgeist, Verantwortung, Kompetenz, Selbstbewusstsein, Selbsterfahrung. "Man muss den Schulen wieder ihre Wichtigkeit zeigen", so Fuchs.
Eine Auszeit als Lösung?
Pädagogen warnen davor, eine Auszeit als automatische Lösung des Problems zu sehen. "Denn das System Schule ändert sich ja nicht. Wenn sich der Jugendliche ändert, dann muss er begleitet werden beim Wiedereinstieg." Wird eine Auszeit genutzt, um Visionen zu entwickeln, muss man dies stärken. Dann ergibt alles wieder Sinn, wie bei dem Jugendlichen, der in seiner Schulpause seine Freundin kennenlernte, mit der er eine Familie gründen will, für die er sorgen will. Das kann er nur, wenn er gute Arbeit findet, also ist es für ihn wichtig und sinnvoll geworden, einen Schulabschluss zu machen.
Engagement ist gefragt
Doch wer engagiert sich? Nur wenige Lehrer wollen zusätzliche Aufgaben übernehmen oder mehr Zeit investieren. Schon das normale Pensum ist kaum zu schaffen. Man müsste Lehrer weiterbilden und fördern für die neuen Herausforderungen wie Integration und G8, was Zeit und Geld in Anspruch nehmen würde. Gelder für Schulsozialarbeit sind knapp, Prävention steht in der Prioritätenliste nicht an oberster Stelle. "Es wäre verheerend, wenn dies alles gekürzt würde“, mahnt Fuchs mit Blick auf bestehende, erfolgreiche Initiativen, die gerade den geforderten handlungsorientierten Ansatz verfolgen. Die Tendenz ist leider zu beobachten: Der Leistungsdruck steigt und lässt weniger Raum für Projekte, die die Schüler fordern, der Frust nimmt zu. Der Schritt zur Schulmüdigkeit wird kleiner - bei Schülern und Lehrern.
Selbst Pädagogen geben zu, dass die meisten heutigen Schulen für junge Menschen unattraktiv sind, dass das Erziehungssystem rigide und das System mit der heutigen Schülergeneration inkompatibel ist. Die Psychologin Katharina Fuchs fasst es so zusammen: "Man versucht Kinder in ein System zu pressen, statt die Schulen an die neue Generation anzupassen."