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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kinderpsychologie Emotional unterversorgt: Experten warnen vor Wohlstandsverwahrlosung
Sie haben alles, was man sich wünschen kann, trotzdem sind sie arm dran: Kinder, die unter Wohlstandsverwahrlosung leiden. Materiell bieten ihnen die Eltern alles, aber ihre emotionalen Bedürfnisse bleiben unerfüllt. Diese psychische Verwahrlosung ist oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen.
Das Zuhause ein schmuckes Häuschen in einer guten Gegend, mehrmals Urlaub im Jahr, Putzfrau, Nachhilfelehrer und selbstverständlich ein Smartphone - wer käme hier auf die Idee, das Kind sei verwahrlost? Doch auch Kinder aus wohlhabenden Verhältnissen können sehr arm sein - innerlich arm.
Materiell über- und emotional unterversorgt
Es fehlt ihnen an Zuwendung durch die Eltern, an Momenten, in denen ihnen einfach nur zugehört wird, an Interesse an ihrem Leben, Fühlen und Denken und vor allem fehlt es ihnen an Zuneigung. Sie leiden unter "Wohlstandsverwahrlosung". Den Begriff machte in den 90er Jahren die Schweizer Psychologin Ulrike Zöllner populär (Buch: "Die armen Kinder der Reichen").
Zur Wohlstandsverwahrlosung braucht es nicht nur Wohlstand
Selbstverständlich lässt nicht jeder, der wenig Zeit für sein Kind hat, es emotional verkümmern. Wichtig ist die Qualität der Beziehung und wie die gemeinsame Zeit erlebt wird. "Auch Eltern, die viele Stunden am Tag mit ihren Kindern verbringen, können trotzdem ihre Kinder emotional 'verhungern' lassen", gibt der Psychotherapeut Klaus Nitsch zu bedenken.
Luxus ist nicht Liebe
Eltern, die vor lauter Selbstverwirklichung keine Zeit mehr für ihre Kinder haben, versuchen das häufig durch materielle Zuwendung auszugleichen. Oft leben Kinder, die unter Wohlstandsverwahrlosung leiden, in einer nach außen hin intakten Familie, in der es innen brodelt oder schlimmer noch, schon das große Schweigen zwischen den Eltern herrscht.
Typische Verwöhnfallen ergeben sich aber auch aus anderen Situationen: Eltern, die durch eine Trennung in einen materiellen Wettstreit treten, berufstätige Mütter, die versuchen, ihr schlechtes Gewissen ruhig zu kaufen oder Eltern, die überzeugt sind, dass ein Kind glücklich wird, wenn seine Wünsche jederzeit erfüllt werden. Dieser falsche Begriff von Liebe löst emotionale Probleme aus.
Von Schuldgefühlen kann man sich nicht freikaufen
Zu den Grundbedürfnissen eines Kindes gehören nicht nur Essen, Trinken, saubere Kleidung und ein Dach über dem Kopf, sondern auch die Befriedigung seiner Schutzbedürfnisse, Anregung, Verlässlichkeit, Verständnis und körperliche wie seelische Wertschätzung. Kinder brauchen eine sichere Bindung und emotionale Zuwendung. Wohlstandsverwahrlosten Kindern fehlt es aber nicht nur an Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse, es fehlt ihnen auch an Grenzen.
Grenzen zu setzen, Konflikte auszutragen und auszuhalten kostet Zeit. Nachgeben ist leichter. Das sorgt ja erst einmal für Ruhe. Aber auf Dauer macht es die Kinder immer orientierungsloser und oft tyrannisch.
Es entsteht ein Kreislauf: Emotional unterernährte Kinder verlangen, in Ermangelung von Zuneigung nach materiellen Beweisen für die Wertschätzung und Liebe der Eltern. Erfolgt diese nicht sofort, dann reagieren die Kinder mit Wut, Ängsten, Depressionen und/oder psychosomatischen Beschwerden. Die Eltern fühlen sich hilflos und überfordert, kämpfen mit Schuldgefühlen und fallen ins alte Muster zurück.
Je jünger das Kind, desto weniger eindeutig die Symptome
Bei kleineren Kindern zeigt sich Wohlstandsverwahrlosung in erster Linie bei der Sprachentwicklung. Doch da diese aus vielen Gründen verzögert sein kann, ist das Problem schwerer zu erkennen als bei älteren Kindern.
"Jugendliche und junge Erwachsene gestalten aktiver die wohlstandsverwahrloste Beziehung mit. Sie haben sich bereits weitgehend arrangiert, sich im Netz der Ersatzbefriedigungen eingerichtet und gelernt, Unlustgefühle rasch mit Konsum oder berauschenden Mitteln zu betäuben", erklärt Nitsch. Der dauernd verplante Tagesablauf führt zudem dazu, dass Wohlstandsverwahrloste nichts mehr mit sich anzufangen wissen und einen ausgeprägten Reizhunger entwickeln, der ihre innere Leere füllen soll.
Jungen reagieren dabei stärker als Mädchen. Bei ihnen kommt die Wohlstandsverwahrlosung weniger lärmend und weniger deutlich destruktiv-aggressiv daher. Auffällig seien bei Mädchen eher die sehr teuren Einkäufe und die Wut, wenn ihnen einmal ein Wunsch abgeschlagen werde. Oft kombiniert mit autoaggressiven Verhaltensweisen.
Hilfeschrei der kindlichen Seelen
Eine weitere Folge der Wohlstandsverwahrlosung liegt in der Persönlichkeitsentwicklung. Vermindertes Mitgefühl ist typisch, aber auch erhöhte Aggressivität, eine geringe Frustrationstoleranz und eine Unfähigkeit, sich zu binden. Selbst bei Übergewicht sollte man an die Folgen mangelnder Zuwendung denken. "Häufig entwickeln emotional verwahrloste Kinder begleitende psychische Störungen. Zu diesen gehören Persönlichkeitsstörungen, psychosomatische Erkrankungen, Ängste, Depressionen, ADHS", erklärt Nitsch. Ab dem Jugendalter kommt Missbrauch von Alkohol und Drogen dazu. "Dieser hat anfangs Trost- und Beruhigungsfunktion, ist aber auch als Hilfeschrei der Seele zu verstehen."
Freundschaften werden nach dem Nutzen beurteilt
Die Kinder und Jugendlichen sind häufig antriebslos, entwickeln daneben aber eine extreme Anspruchshaltung. Dankbarkeit oder gar Demut sind ihnen fremd, ein Gefühl für Geld und was es für manche Menschen bedeutet, dieses zu verdienen, auch. Verantwortung übernehmen sie nur ungern und Freundschaften werden nach dem "Was-nützt-mir-derjenige"-Aspekt beurteilt.
Das Kind als Luxusobjekt
Menschen, die ihre Kinder als Indikator ihres eigenen Status inszenieren, rauben ihnen die Kindlichkeit und den Realitätssinn.
"Wohlstandsverwahrlosung ist immer auch eine Hypothek, die weit in die Zukunft ausstrahlen kann", warnt Nitsch. Denn eines sollte man bedenken: Die emotional verwahrlosten Kinder von heute sind die emotional verwahrlosten und verwahrlosenden Eltern von morgen.