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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Interview mit Experte Nach Schumachers Sturz: So wurden Ski-Helme weiter entwickelt
Zehn Jahre ist es her, dass Michael Schumacher sich bei einem Skiunfall schwer verletzte. Der Helm hatte den Formel-1-Star nicht schützen können. Wie kann man dem vorbeugen?
Vor genau zehn Jahren erlitt Michael Schumacher bei einem Skiunfall in den französischen Alpen eine schwere Hirnverletzung. Der siebenfache Formel-1-Champion war wenige Meter neben einer regulären Piste mit seinen Skiern auf einen Brocken geprallt. Dabei muss es Schumacher ausgehebelt haben – und er schlug mit dem Helm auf einem Felsen auf. Schumacher war damals nicht einmal besonders schnell unterwegs, wie Bilder seiner eigenen Helmkamera den Ermittlern später zeigten. Dennoch zerplatzte der Helm, der seinen Kopf hatte schützen sollen.
Ging Schumacher ein zu hohes Risiko ein? War der Helm nicht einwandfrei? Oder handelte es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände? Der Schweizer Experte für Unfallprävention im Bereich Schneesport, Samuli Aegerter, erklärt t-online, wie die Entwicklung von Helmen seit Schumachers Unfall fortgeschritten ist und warum die Vorsichtsmaßnahmen beim Skisport schon vor dem Helm beginnen müssen.
t-online: Herr Aegerter, der Winter beginnt und die Menschen strömen auf die Skipisten. Ist der Helm als Sicherheitsmaßnahme ein Muss?
Samuli Aegerter: In der Schweiz ist ein Helm beim Schneesport keine Pflicht, aber die Schweizer Unfallversicherung Suva empfiehlt das Helmtragen auf der Piste. Die Unfallschwere kann durch einen Helm gedämpft werden. In der Schweiz tragen mehr als 90 Prozent der Ski- und Snowboardfahrer einen Helm.
Wann hilft ein Helm nicht mehr?
Wenn ein Aufprall sehr heftig ist, weil man zum Beispiel auf einen harten Gegenstand auftrifft, kann der Helm natürlich beschädigt werden. So war das auch beim Unfall von Herrn Schumacher. In den zehn Jahren seit dem Unfall haben sich die Helme aber weiterentwickelt. Es gibt jetzt seit einigen Jahren eine neue Technologie namens MIPS (steht für Multi-Directional Impact Protection System, Anm. d. Red.).
Was kann MIPS?
Die Technologie ermöglicht es, auf den Kopf wirkende Rotationskräfte besser abzufangen. Die innere Schale des Helmes dreht sich gegenüber der äußeren – das kann Schädelverletzungen abdämpfen, die bei diesen Drehstürzen, wenn man schräg aufprallt, passieren können. Aber ob mit oder ohne MIPS-Technologie – was alle Helme erfüllen müssen, ist die Norm EN 1077, die die Schutzwirkung für den Schneesport in Sachen Wirksamkeit, Festigkeit und Befestigung gewährleistet.
Kann ein Unfall wie der von Michael Schumacher auch heute noch geschehen?
In der Schweiz enden pro Jahr leider 2.300 Pistenunfälle mit schweren Verletzungen, etwa sieben sogar tödlich. Auch Ski- und Snowboardfahrer sind nicht unverletzlich. Zum Glück gehören aber Skifahren und Snowboarden nicht zu den Sportarten mit sehr hohem Unfallrisiko.
Am besten stellt man einen Helm gar nicht erst auf die Probe, oder?
Richtig, am besten ist es, einfach nicht zu stürzen. Deshalb gehen wir in der Unfallprävention umfänglich auf das Fahrverhalten der Menschen ein und geben Tipps und Hinweise, wie man seine Fahrweise anpassen kann.
Wie viele Skiunfälle passieren im Jahr?
Im vergangenen Winter verletzten sich rund 43.000 deutsche Skisportler, wie die statistische Auswertungsstelle für Ski-Unfälle (ASU) mitteilt. Etwa 7.300 der Verletzten mussten stationär behandelt werden. Auf 1.000 Skifahrer kam im Winter 2022/23 ein Kollisionsunfall. Die Top-Sechs Verletzungsbereiche beim Skifahren sind den Angaben nach die Knie, die Schultern, der Kopf, der Rumpf, die Hüfte mit Oberschenkeln sowie die Unterschenkel.
Fängt das damit an, dass abseits der Pisten nicht gefahren werden sollte?
Das darf man schon, aber man muss unterscheiden, ob es ein Zwischenpistenbereich ist oder ob es sich schon um Freeriden (dt. Fahren im freien Gelände, Anm. d. Red.) oder Tourengehen handelt. Der Unfall von Herrn Schumacher war gar nicht weit abseits der Piste. Dort ist der Schnee aber nicht präpariert. Da gibt es Hügel und versteckte Steine und Felsen. Bei einer schwachen Schneelage, wie wir sie jetzt in etwas tiefer gelegenen Skigebieten haben, raten wir zu Vorsicht. Die Pisten sind nicht stark eingeschneit, es gibt Buckel und unterschiedlich harte Schneebedingungen.
Viele Deutsche freuen sich riesig auf ihre Skiwoche im Winter, sind aber womöglich gar nicht gut vorbereitet. Beginnt die Unfallprävention schon zu Hause?
Unbedingt. Unfallprävention beginnt bei der eigenen Ausrüstung. Leute, die in den Skiurlaub aufbrechen, sollten dringend überprüfen, ob der Helm in Ordnung ist und gut sitzt. Wir raten dazu, den Helm alle fünf Jahre zu ersetzen, denn die Stabilität ändert sich mit den Jahren durch die UV-Strahlung und andere Faktoren.
Was ist wichtig in Bezug auf die restliche Ausrüstung?
Wichtig ist es, die Skibindungen in einem Fachgeschäft einstellen zu lassen. Da gibt es den sogenannten Skibindungsauslösetest, der gewährleistet, dass sich die Bindung im richtigen Moment öffnet, um Verletzungen an den Beinen zu verhindern. Das ist sehr sinnvoll, kostet etwa 20 Franken (umgerechnet 21,50 Euro) und geht schnell.
Samuli Aegerter (49) ist bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt Suva Experte für Unfallprävention im Bereich Schneesport. Aegerter hat selbst 20 Jahre lang Schneesportlehrpersonen ausgebildet.
Und wie steht es um die Fitness?
Im Schneesport wirken hohe Belastungen von etwa dem eineinhalbfachen des eigenen Körpergewichts auf den Sportler. Es lohnt sich also, wenn man sich konstant fit hält. Hier geht es hauptsächlich um Rumpf- und Beinkraft, also darum, die Kräfte, die hauptsächlich in den Kurven wirken und zur Ermüdung führen, aushalten zu können. Skiurlauber können sich in den Wochen vor dem Urlaub mit unserem interaktiven Fit-Programm von Loïc Meillard vorbereiten.
Sie meinen den Schweizer Skirennfahrer Loïc Meillard?
Ganz genau. Wir stellen kostenlos Übungen mit Loïc in unserer App "Slope Track" und im Internet zur Verfügung. Hier kann man sich ganz gezielt unter seiner Anleitung vorbereiten. Wer die App hat, kann übrigens auch messen, wie stark der eigene Körper auf der Piste belastet wird. So können Schneesportlerinnen und Schneesportler sich selbst einschätzen. In der Schweiz nutzen "Slope Track" über 20.000 Menschen und wir zeichnen pro Winter 90.000 Abfahrten auf.
Und welche Erkenntnisse gewinnen Sie als Präventionsexperte daraus?
Wir sehen, wie schnell gefahren wird und wie sich die Geschwindigkeiten in Bezug auf die verschiedenen Altersgruppen verändern. Darauf basierend erstellen wir dann Analysen, auf deren Basis wir unsere Präventionsarbeit stützen.
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Sind Hobbyskifahrer denn schneller unterwegs als früher?
Die Durchschnittsgeschwindigkeit beim Skifahren variiert je nach Saison und Wetterbedingungen. Mehr als die Hälfte der Schneesportler erreicht Höchstgeschwindigkeiten von um die 60 km/h. Dies ist im Hinblick auf den Bremsweg und die Kräfte, die auf den Körper einwirken, von großem Interesse. Wer bei 60 km/h ausweichen muss, weil da ein Stein liegt oder eine andere Person im Weg ist, braucht eine Sekunde, um überhaupt reagieren zu können. In dieser einen Sekunde fährt man 15 Meter weit.
Deswegen heißt es auch, man soll "auf Sicht" fahren, oder?
Genau, man muss in Sichtweite bremsen oder ausweichen können – und bei 60 km/h und mehr wird das eine echte Herausforderung. Dann sind 15 Meter in einem Augenblick zurückgelegt.
Sollten die Leute einfach langsamer fahren?
Dort, wo es gefährlich wird, sollte die Geschwindigkeit reduziert werden. Ski- und Snowboardfahrer sollen ihre Fahrweise auf die Verhältnisse anpassen. Das heißt: Bei breiter Piste mit wenigen Fahrern kann man schneller fahren. Das macht ja auch Spaß. Aber wenn es eng, kurvig und hügelig wird – wenn man den zweiten Teil des Hügels nicht mehr einsehen kann – sollte man das Tempo drosseln. Wir bei der Suva beobachten, dass auf der Piste einige Wintersportler ihre Fähigkeiten etwas überschätzen.
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Heißt das, die Wintersportler nehmen immer mehr Risiko in Kauf?
Das moderne Material macht es immer leichter, Ski oder Snowboard zu fahren. Und auch die Pistenverhältnisse werden immer perfekter. Die Kombination von Supermaterial und Superpiste verleitet dann halt viele zu schnellen Fahrten. Und wenn man nicht mehr bremsen kann, knallt's.
Sind Handys auf der Piste ein Problem?
Man sieht immer mehr Leute mit Smartphones auf der Piste. Im vergangenen Frühjahr haben wir eine Befragung von Verunfallten durchgeführt und festgestellt, dass die Achtsamkeit nachlässt. Grundsätzlich sollen die Leute ihre Urlaubsmomente natürlich festhalten können, das wollen wir nicht verhindern. Aber es lohnt sich, das vom Pistenrand aus zu machen. Wer sich selbst oder andere beim Fahren filmt, filmt vielleicht auch die letzten Meter eines schlimmen Sturzes – und die Saison ist dann beendet.
Haben Sie einen Tipp für Familien, die mit kleineren Kindern unterwegs sind?
Ja, auf jeden Fall, ich habe das gerade erst selbst umgesetzt. Meine Töchter sind 8 und 10 Jahre alt. Sie fahren schon ziemlich gut, aber was sich empfiehlt, ist die Piste nach dem Fahrniveau der Kinder auszuwählen. In der Schweiz sind das die blauen Pisten für Einsteiger. Wenn viele Leute gleichzeitig auf den Pisten unterwegs sind, dann sollte man kurz am Pistenrand mit den Kindern warten, bis es wieder etwas leerer wird.
Und noch ein Tipp: Bleiben Sie hinten und schirmen Sie das Kind ab. Meine Tochter fährt vorne ihre Schwünge und ich bin zehn, zwanzig Meter hinter ihr und habe das Gefühl, dass ich sie vor sehr schnellen Fahrerinnen und Fahrern schützen kann. Ganz wichtig ist auch der Blick nach oben: Ist die Piste frei? Kann ich losfahren? All diese Dinge kann man spielerisch mit den Kindern üben. Und um auf den Helm zurückzukommen, wenn Mama und Papa einen Helm tragen und ihre Fahrweise anpassen, dann haben die Kinder auch gute Vorbilder.
Wir danken Ihnen für das Gespräch, Herr Aegerter.
- Telefonisches Interview mit Samuli Aegerter
- Unfallanalyse der statistischen Auswertungsstelle für Ski-Unfälle (ASU)