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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erziehung Unsicherheit ist kein unabwendbares Schicksal
"Ich trau‘ mich nicht!" Ein Satz, der oft von sehr weit unten kommt. Früher nannte man die Stelle Rockzipfel, heute ist es meist die in Jeans gekleidete Wade, an der das Kind hängt und versucht, sich zu verstecken. Wieso hat mein Kind kein Selbstbewusstsein, fragen sich viele Eltern und befürchten, aus dem ängstlichen Kind wird auch ein ängstlicher Erwachsener. Doch die Experten sind sich einig: Mut und Selbstwertgefühl, das kann man lernen.
können Sie zudem testen, wie unsicher beziehungsweise selbstbewusst Ihr Kind ist.
Unsichere Kinder sind zunächst pflegeleichter
Unsicherheit ist ein Phänomen, das in irgendeiner Form mehr als die Hälfte aller Grundschulkinder trifft, männliche wie weibliche. Ist ein Kind dabei nicht auffällig unsicher, dann gilt es - was den Eindruck der Eltern und Erzieher angeht - in diesem Alter sogar eher als pflegeleicht. Andrea Micus und Günther Hoppe führen diese Tatsache in ihrem Buch "Jedes Kind kann stark sein" genauer aus: "Im Unterschied zu sehr lebhaften oder aggressiven Kindern bereiten sie ihren Eltern auf den ersten Blick nur wenig Kopfzerbrechen. Wer seine Gefühle zurückhält, lässt sich nicht emotional gehen, und wer keine Bedürfnisse äußert, hat auch keine großen Wünsche, die von den Eltern befriedigt werden müssen." Deswegen wird die soziale Unsicherheit von Fachleuten auch als "heimliche Verhaltensstörung" bezeichnet. Doch irgendwann, spätestens ab der weiterführenden Schule, fällt das unsichere Verhalten auf und verstärkt sich dadurch. Das kann dann zu einem verhängnisvollen Kreislauf führen. Wird dieser nicht durchbrochen, kann es passieren, dass das Kind sich zu einem Sonderling, einem Außenseiter entwickelt.
Der Ursprung der Unsicherheit
"Man kann ein Kind so erziehen, dass es unsicher wird." Der Vorsitzende der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, Ulrich Gerth, kennt diesbezüglich viele Methoden. "Leider werden Kinder immer noch manchmal erniedrigt, müssen sich Sprüche anhören wie 'Wie kann man nur so doof sein?' oder 'Stell dich doch nicht so an!'. Aber Kinder werden auch verunsichert, wenn Eltern in Konfliktsituationen ihre Macht ausspielen und sie niederdiskutieren. Oder wenn man ihnen keine Selbstständigkeitserziehung zukommen lässt."
Bereits bei Babys wird der Grundstein gelegt für ein späteres Selbstbewusstsein und das wiederum ist die Grundlage für Selbst-Sicherheit. Schreit ein Säugling und werden seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Zuneigung befriedigt, dann erhält er die Zuwendung und Aufmerksamkeit, die er braucht. Das Gleiche gilt für Kinder jedes Alters und letztendlich auch für uns Erwachsene. Um sicher auftreten zu können, brauchen wir die Sicherheit eines sozialen Netzes. Emotionale Zuwendung und positive Erfahrungen sind die wichtigsten Baustein eines sich im Aufbau befindlichen Selbstbewusstseins. Entsprechend macht es keinen Sinn, seinem Kind alles abnehmen zu wollen. Kleine Aufgaben, die von ihm gut bewältigt werden können, stärken das Selbstbewusstsein. Das kann der Gang zur Bäckerei am Ende der Straße genauso sein wie das Anrufen bei einer anderen Familie, um sich mit der Freundin zu verabreden.
Schlechte Erfahrungen hingegen machen es schlimmer, lassen den Menschen noch unsicherer werden und zu einer Methode greifen, die sich am ehesten durch "wegducken" beschreiben lässt.
Unsichere Kinder brauchen Eltern, die an sie glauben
Viele Eltern fragen sich, warum gerade ihr Kind so unsicher sind. Schätzen Sie sich selbst doch als sehr selbstbewusst ein und hätten eigentlich auch gerne ein Kind, das immer vorne mit dabei ist: Das bei der Weihnachtsaufführung nicht den dritten Baum von links spielt, sondern Maria oder Josef, das auf dem Betriebsfest durch seine Offenheit die Kollegen zum Bewundern bringt und das sich wehrt, wenn andere es piesacken. "Wenn man dann wütend wird und sich über das Verhalten des Kindes ärgert, dann bringt das aber nichts. Im Gegenteil: Die Unsicherheit wird durch den Druck der verärgerten Eltern nur noch mehr verstärkt", so der Diplom-Psychologe.
Vorsichtig sollte man auch bei Kritik sein und immer nur das Verhalten, nicht aber das Kind selbst kritisieren. Sätze, die mit "Du bist immer…" oder "Nie kannst du…" beginnen, taugen in der Regel nichts. Hinzu kommt, so der Pädagoge und Schulleiter Günther Hoppe, dass man nur einen Ton wählen sollte, den man selbst akzeptieren würde. Respekt ist hier das Schlagwort. "Kinder sind verletzlich. Und gerade unsichere Kinder ziehen sich dann noch mehr in ihr Schneckenhaus zurück."
Das Kind so annehmen, wie es ist
Schüchterne Kinder brauchen einen gewissen Vertrauensvorschuss, die Unsicherheit lässt sich nicht innerhalb kürzester Zeit bezwingen. Dafür braucht man Geduld und Verständnis. Wobei es Eltern oder Lehrern oft bei einem Mädchen ein wenig leichter fällt, einen Wesenszug wie Schüchternheit bis zu einem gewissen Grad zu akzeptieren. Doch egal, ob Junge oder Mädchen: "Nehmen Sie die Unsicherheit an, sie ist nicht schlimm", erklärt Ulrich Gerth. "Wichtig ist, dem Kind erst einmal die Nähe zu geben, die es braucht. Dann kann man es behutsam ermutigen und Situationen herbeiführen, in denen es sich Schritt für Schritt bewähren kann." Man kann zudem auch mal zugeben, dass es Situationen gibt, in denen man selbst unsicher ist oder war. Gemeinsam mit dem Kind lässt sich dann gut überlegen, wie man mit einer solchen Situation umgehen könnte.
Trauen Sie Ihrem Kind etwas zu!
Wagt sich das Kind langsam aus seinem Schneckenhaus, dann sollte man es entsprechend unterstützen und vor allem nicht überfordern. Entscheidend ist auch, das unsichere Kind nicht mit anderen zu vergleichen. Es ist ganz egal, ob die große Schwester oder der gleichaltrige Nachbarsjunge schon lange deutlich selbstständiger sind. Sätze wie "Jonas geht schon seit der zweiten Klasse allein einkaufen" erniedrigen das Kind und setzen es nur einem unnötigen Konkurrenzdruck aus. Besser ist es, das schüchterne Kind zu stärken und zu loben, ihm etwas zuzutrauen und es auch zu bemerken, wenn es etwas geleistet hat, was für dieses Kind nicht selbstverständlich ist. Sätze wie "Das schaffst du" oder "Ich bin sicher, dass du das kannst" helfen dem Kind weiter. Allerdings nur, wenn es merkt, dass die Eltern ihm wirklich etwas zutrauen.