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Hirntumor: Mia erkrankte mit zweieinhalb Jahren


Krebs
Mia (7): "Renn nicht so schnell! Ich hatte doch einen Hirntumor"

Mia war erst zweieinhalb Jahre alt, als bei ihr ein bösartiger Hirntumor festgestellt wurde. 15 bis 20 Prozent aller Hirntumore treten bei Kindern auf; sie sind damit die zweithäufigste Krebserkrankung im Kindesalter. Der Feind im Kopf lässt das Leben der ganzen Familie aus den Fugen geraten: OP, Chemo- und Strahlentherapie sind nicht nur belastend, sondern bringen Risiken und Spätfolgen mit sich. Mia wird damit ihr Leben lang zu tun haben. Aber sie hat überlebt und besucht trotz ihrer Defizite eine normale Grundschule.

Aktualisiert am 24.11.2014|Lesedauer: 8 Min.
t-online, Anja Speitel
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Mia war immer ein freundliches, ausgeglichenes Kind. Mit zwei Jahren und vier Monaten wurde das kleine Mädchen jedoch zunehmend jähzornig. "So kannte ich meine Maus gar nicht", erinnert sich ihre Mutter Andrea. "Alle beruhigten mich: Das sei nur eine Trotzphase, ich solle mich entspannen. Dennoch spürte ich: Irgendwas ist nicht in Ordnung." Dann hatte Mia häufig abends Fieber. Eines morgens übergab sie sich schwallartig auf dem Wickeltisch.

Hirntumor: Bei Mia (7) wurde im Alter von zweieinhalb Jahren ein Hirntumor festgestellt. Ein Jahr lang bekam sie Chemotherapie, ihren Lebensmut hat sie aber nie verloren.Vergrößern des Bildes
Bei Mia (7) wurde im Alter von zweieinhalb Jahren ein Hirntumor festgestellt. Ein Jahr lang bekam sie Chemotherapie, ihren Lebensmut hat sie aber nie verloren. (Quelle: privat)

Zig Mal ging Andrea mit ihrer Tochter zur Kinderärztin. "Mal vermutete sie einen grippalen Infekt, dann eine Magen-Darm-Verstimmung, schließlich Lactose-Intoleranz. Ich solle Milch weglassen. Doch auch das half nichts. Nachdem sich Mia eines morgens komplett nüchtern übergeben hatte, stand ich wieder in der Kinderarzt-Praxis. Diesmal forderte ich eine Überweisung in die Kinderklinik. Ich wollte Sicherheit, dass alles mit Mia in Ordnung ist."

Eine MRT bringt Klarheit

Noch am selben Tag, dem 14. Juli 2009, fuhren Andrea und ihr Mann Tobias mit Mia ins Universitätsklinikum Freiburg. Nach einigen unauffälligen Untersuchungen rieten die Ärzte den Eltern, mit Mia über Nacht im Klinikum zu bleiben. "Denn am nächsten Tag war zufällig ein MRT-Termin freigeworden. Sonst müssten wir noch sechs Wochen warten, bis wieder einer frei ist", erinnert sich Andrea. "Wir wollten Sicherheit, also blieben wir da." Eine weise Entscheidung, denn die Magnetresonanztomographie brachte schreckliche Gewissheit: Mia hatte einen Tumor im Bereich des vierten Hirnventrikel.

Warnzeichen für einen Hirntumor

Andreas ungutes Gefühl hatte sich grausam bestätigt. Mia hatte in den vergangenen drei Monaten wirklich klassische Anzeichen für einen Hirntumor gezeigt: "Erbrechen Kinder häufig oder haben immer wieder Kopfschmerzen, kann dafür erhöhter Hirndruck verantwortlich sein. Ursache für diesen erhöhten Druck kann ein Hirntumor sein", erklärt Jochen Rößler, leitender Oberarzt der Pädiatrischen Hämatologie und Onkologie im Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Freiburg.

"Ein Hirntumor ist aber schwierig zu diagnostizieren; nur ein MRT gibt wirklich Klarheit. Aber diese aufwändige bildgebende Diagnostik macht man natürlich nicht bei jedem Kind mit Kopfweh und Übelkeit", sagt Rössler. Dafür müssten noch andere Zeichen hinzukommen, die schwerer zu greifen sind - kleine neurologische Ausfälle, die man nicht unbedingt beachtet: Stolpert das Kind öfter oder kann nicht richtig greifen? Verdreht es die Augen oder hat Sprachstörungen? Hat sich seine Persönlichkeit verändert? Ist es leichter reizbar, nicht mehr aufmerksam oder kann sich nicht mehr konzentrieren? Hat es vielleicht sogar hin und wieder Bewusstseinsstörungen?

Mia war beim Spielen mal unter dem Sonnenschirm zusammengesackt: "Sie kippte wie in Zeitlupe nach vorne und war apathisch", erinnert sich die Mutter. "Ich sagte: Mia? Alles in Ordnung? Mia? Sie reagierte erst, als ich sie anfasste. Da schrak Mia auf, guckte mich völlig perplex an und war eine Sekunde später wieder ganz normal. Die Kinderärztin schob das auf die Sommerhitze und Mias Kreislauf", reflektiert Andrea. "Im Nachhinein wissen wir, dass Mias Auffälligkeiten und ihre psychische Veränderung damals mit dem Tumor in ihrem Kopf zusammen hingen."

Bei einer Krebsdiagnose gerät die Welt aus den Fugen

Mia war noch vom MRT sediert, als die Ärzte die Eltern aufklärten: "Ich kann mich nur noch an den Raum mit den Bildschirmen erinnern. Darauf die Bilder aus Mias Gehirn. Ein fünf mal 2,3 cm großer Tumor sei dort zu sehen - das ist riesengroß. Alles drehte sich, ich wollte nur noch zu Mia und heim. Doch der Oberarzt sagte, Mia müsse dringend operiert werden. Es bestünde akute Lebensgefahr. Welche Tragweite dieser Tumor noch hat, realisiert man dann noch nicht", weiß Andrea heute.

Allen Eltern zieht es den Boden unter den Füßen weg, wenn ihr Kind eine Krebsdiagnose bekommt: "Das ist ein Schock und alles gerät aus den Fugen. Die Eltern aufzufangen und sie und die Kinder im Kampf gegen den Krebs zu unterstützen ist sehr wichtig", weiß Anette Wenger, Diplom-Psychologin und Familientherapeutin am Freiburger Uniklinikum. Ein Team aus Psychologen, Erzieherinnen und Lehrern, Sozialarbeitern und Seelsorgern stehen Eltern und Kindern in der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie zur Seite.

Gehirn-OP dauert über neun Stunden

Direkt am morgen nach der MRT wurde Mia operiert. "Es war grauenvoll sie im OP abzugeben", erinnern sich die Eltern noch ganz genau. "Wir wussten nicht, ob und wie wir Mia nach dem Eingriff in ihr Gehirn wiederbekommen würden: Wird sie uns noch erkennen? Wird sie sehen, laufen, schlucken und atmen können? Wird sie vielleicht gelähmt sein? Auf all diese Risiken nach einer Hirn-OP hatten uns die Ärzte hingewiesen."

Nach unendlich langen 9 1/2 Stunden warten, klingelte dann das Telefon bei Andrea und Tobias: Die OP sei gut verlaufen. Sie könnten Mia endlich wiedersehen. "Mia lag auf der Intensivstation und schlief. Ich trat an ihr Bett und sprach sie an. Sie schlug sofort die Augen auf. Speichel ran ihr aus dem Mund, doch dann schluckte sie und sagte: 'Wo ist mein Ai?' Sie wollte ihr Kuscheltuch! Sie erinnerte sich, sie konnte sich bewegen, sie war noch bei uns! Ein riesiger Stein viel uns vom Herzen."

Krebsbehandlung bei Kindern nach strengem Protokoll

Mias OP war bestens verlaufen: Der Tumor in ihrem Kopf konnte makroskopisch komplett entfernt werden, ohne dass Mia ersichtlichen Schaden genommen hatte. Sie erholte sich schnell. Doch ihre Krebsbehandlung musste weitergehen: Um Chemo- und Strahlentherapie kam Mia nicht herum, das war eine Woche nach der OP klar. Denn das Ergebnis der Gewebe-Analysen im Hirntumor-Referenzzentrum Bonn zeigte: Mia war an einem Ependymom WHO III erkrankt, einer schnell wachsenden, besonders bösartigen Form von Tumor.

Ein Jahr Chemotherapie

Für die krebskranke Mia und ihre Familie bedeutete das Protokoll als erstes 16 Blöcke Chemotherapie - sie dauerten rund ein Jahr. Die Chemotherapie zerstört nicht nur Krebszellen, sondern auch gesunde. Deshalb kommt es zu den typischen Nebenwirkungen wie unter anderem Immunschwäche und Haarausfall. "Da gewöhnt man sich aber dran", reflektiert Andrea.

"Irgendwann ist es ganz normal, dass man immer wieder in der Klinik ist. Mia hat sich sogar immer gefreut, dorthin zurück zu kommen. Das war ein Event für sie: Viele glatzköpfige Kinder, mit denen sie spielen konnte - sie durfte sonst ja nur zu Hause sein. Auch einen gewissen Sarkasmus haben wir dem Krebs gegenüber entwickelt: Mias Spitzname während der Chemo-Zeit war Glatzi - denn kein Härchen war mehr an ihr dran."

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Die Kinder verarbeiten ihre Krebserkrankung übers Spiel: Mia schmückte ihren Infusionsständer und nannte ihn "Pfiffi". Auch der Arztkoffer war eine Zeit lang ihr ständiger Begleiter: "Die Kinder verarzten uns, ihre Eltern oder Stofftiere. Sie kommen so aus der Ohnmacht, immer alles über sich ergehen lassen zu müssen, in die Aktivität - sie dürfen auch mal, können gestalten, haben Einfluss. Das hilft bei der Verarbeitung der Krankheit", weiß Wenger.

Auch die Eltern brauchen Unterstützung

Neben psychologischen Gesprächen zur Krankheitsverarbeitung hilft das psychosoziale Team den Eltern auch in Punkto Organisation: Unterbringung im Elternhaus und Betreuung von Geschwisterkindern, Beratung bei sozialrechtlichen Fragen, individuelle Hilfen, Wiedereingliederung nach der Intensivtherapie und vieles mehr.

"Ich konnte nicht mehr arbeiten, weil ja einer von uns immer bei Mia war", sagt Andrea. "Da hat uns der Freiburger Förderverein für krebskranke Kinder e. V. ganz unbürokratisch 300 Euro pro Monat zur Verfügung gestellt, um den Kostenaufwand zu decken, den Mias Ernährung mit sich brachte." Kinder unter Chemotherapie sind so anfällig, dass sie zum Beispiel keine Nahrungsmittel, die länger als 24 Stunden geöffnet sind, essen dürfen. "Ich wurde vom psychosozialen Team der Station und dem des Elternhauses vom Förderverein komplett aufgefangen. Ohne diese Hilfen hätten wir alle das vermutlich nicht durchgestanden", sagt Andrea. Denn Mias Krebstherapie war ein langer Weg.

Strahlentherapie bei Kindern besonders risikoreich

In Anschluss an die einjährige Chemotherapie erforderte Mias gefährliches Ependymom auch noch eine Bestrahlung. Mia war zu diesem Zeitpunkt im Juni und Juli 2010 erst knapp dreieinhalb Jahre alt. Das ist besonders risikoreich: "Bei Kindern unter vier Jahren versucht man, die Strahlentherapie möglichst lange hinauszuzögern. Denn das Gehirn hat bis dahin noch nicht alles gelernt. Trotz immer besserer Bestrahlungsmethoden drohen durch diese Therapie kognitive Defekte", weiß Rößler.

"Doch man braucht die Strahlentherapie, um kleinste Reste des Tumors unschädlich zu machen. Das ist ein hartes Abwegen zwischen Besiegen des Krebs' und einem Leben mit Einbußen gegenüber der Nicht-Beherrschbarkeit des Tumors, einem Rückfall und dann vielleicht dem Tod." Andrea und Tobias entschieden sich dafür, dem Tumor den Kampf anzusagen: Über sechs Wochen wurde Mia jeden Morgen von Montag bis Freitag bestrahlt. Jedes Mal wurde sie sediert und am Bestrahlungstisch festgeschnallt. Denn die Kinder dürfen sich keinen Millimeter bewegen, um möglichst wenig gesundes Gehirngewebe zu treffen. Eine für Kinder und Eltern erneut extrem belastende Situation.

Mias Bestrahlung wirkt sich für immer aus

Weil Mia so früh in ihrem Leben bestrahlt werden musste, hat sie mit einigen Defiziten zu kämpfen: Ihre Koordination und intellektuelle Kombination ist eingeschränkt. Sie braucht für alles länger. Oft gehorcht ihr linkes Bein nicht, dann stolpert sie. Sie schielt auf einem Augen. Auch den Urin kann sie manchmal nicht halten. "Mia weiß, dass all das vom Hirntumor und seiner Therapie kommt und sie nicht trottelig ist oder so. Wir und die Psychologen haben ihr das genau erklärt", sagt Andrea. "Wir haben Mias Selbstwert aufbauen müssen", erzählt Wengler. Jetzt weiß Mia, dass sie nichts dafür kann, anders als andere Kinder zu sein. "Mia nimmt kein Blatt vor den Mund", freut sich die Mutter. "Wenn sie mit Freundinnen spielt, ermahnt sie die schon mal: 'Renn nicht so schnell, da komm ich doch nicht mit, weil ich einen Hirntumor hatte.'"

Kinder mit solch einem Schicksal erhalten einen Nachteilsausgleich in der Schule: Wenn Mia statt drei Seiten schreiben nur eine halbe schafft, ist das noch okay. "Wir haben Mia in eine normale Grundschule eingeschult, weil wir sie nicht direkt in die Defizit-Schublade stecken wollten", so Andrea. "Es läuft gut." Um Menschen, die Mias Schicksal teilen, ein normales Leben zu ermöglichen, bekommen sie auch als Jugendliche einen besonderen Ausbildungsvertrag, der ihnen ein Jahr mehr Zeit einräumt.

Die Angst vor einem Rückfall bleibt

Auch wenn Mias Therapie seit Juli 2010 abgeschlossen ist, bleibt die Angst vor einem Rückfall oder weiteren Tumoren. "Das Risiko ist bei Grad III oder IV-Hirntumoren immer gegeben", weiß Rößler. "Zudem können Strahlen- und Chemotherapie die Zellen langfristig verändern und als Spätfolgen Funktionsverluste von Organen wie Herz, Nieren und Leber sowie Zweittumore nach sich ziehen." Junge Tumorpatienten wie Mia werden deshalb engmaschig überwacht: Nach der Akuttherapie musste Mia unter anderem alle drei Monate in die MRT. Seit einem Jahr muss sie diese Nachsorge nur noch alle halbe Jahr über sich ergehen lassen. Wenn Mia ihren Hirntumor dann fünf Jahre überlebt hat, steht die bildgebende Methode noch jedes Jahr einmal auf dem Programm - jedoch ihr Leben lang.

"Rund eine Woche vor dem MRT-Termin geht es los mit der Angst und Unruhe", berichtet Andrea. "Dann bin ich schnell gereizt, beobachte Mia wieder viel genauer und die Gedanken kreisen. Es ist einfach jedes Mal eine Zitterpartie, ob alles in Ordnung ist."

Optimistisch in die Zukunft

Trotz der Angst, die immer bleibt, blicken Andrea und Tobias optimistisch in die Zukunft: "Mia wird ihren Weg gehen. Ich unterstütze sie, alles zu versuchen, was sie möchte", sagt die Mutter. "Früher hatte ich mal vor Karriere zu machen, doch Mias Erkrankung hat alles verändert. Meine Prioritäten sind verschoben", reflektiert sie. "Die Familie ist jetzt das absolut Wichtigste. Mein Nebenjob in einem kleinen Lädchen reicht mir heute vollkommen. Ich will für Mia da sein, sie fasziniert mich immer aufs neue: Ihre Freude an den kleinsten Dingen ist mitreißend. Schon über einen Besuch in der Eisdiele freut sie sich unbändig. Irgendwie weiß sie wohl seit ihrem Hirntumor, dass ein normales Leben nicht selbstverständlich ist."

Weitere Infos:

Um krebskranke Kinder wie Mia und ihre Familie zu unterstützen, sind Spenden notwendig. Weitere Infos beim Förderverein für krebskranke Kinder e.V. an der Unikinderklinik in Freiburg: http://www.helfen-hilft.de. Viele Informationen rund um Krebs bei Kinder hält auch die Kinderkrebsstiftung bereit: http://www.kinderkrebsstiftung.de

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