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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trend Kakao-Zeremonie Die perfekte Droge für die Generation Ökoladen
New York, Paris, Berlin – überall auf der Welt steigen Kakao-Partys. Der Erfinder verschickt mittlerweile jährlich 10.000 Kilogramm seines Ritual-Kakaos in alle Welt. Die Wirkung? Angeblich magisch. Eine Reportage.
Der Schamane steht in der Küche und rührt den magischen Trank in einem angestoßenen blauen Emailletopf: ein Teil Rohkakao, drei bis vier Teile Wasser, ein paar Gewürze, fertig. Kein Kupferkessel, weder Spinnenbeine noch Krötendreck. Keith Wilson, der Kakao-Schamane, sieht aus wie der Bruder von Catweazle. Bart und Haupthaar haben seit Jahren keine Schere gesehen. Sein magerer Leib steckt in mürben Folkloreklamotten.
Friedliche Kakao-Zeremonien für Wohlstandswestler
Gleich beginnt die Kakao-Zeremonie auf einer Terrasse mit Blick auf den magischen Lake Atitlan in Guatemala, umstanden von Vulkanen. Und Wilson ist der Zeremonienmeister, seit 15 Jahren. Zwei Dutzend abgespannte Wohlstandswestler haben sich heute angesagt für eine Reise auf der sanften Hipster-Medizin. Die Wirkung liegt deutlich unterhalb von Kaffee oder Jägermeister, gleichwohl berichten Kakao-Jünger von einem Gefühl des offenen Herzens. Schreiber sollen sich auf Kakao besser konzentrieren, Musiker die Töne besser treffen, Manager besser managen können.
"Kakao ist nicht das neue Koks", beruhigt DRadioWissen, eher eine Art Bio-Ecstasy. Der bittere Naturstoff ist nicht teuer, legal und macht nicht abhängig. Kakao bedient das Bedürfnis reizüberfluteter Großstädter nach Einkehr und Herzöffnung. Antioxidantien, Vitamine, Mineralien, vor allem aber Theobromin, wirken nachweislich anregend und stimmungsaufhellend. Ein Überdosieren ist kaum möglich, Nebenwirkungen sind nicht bekannt – die perfekte Droge für die Generation Bioladen.
Vom Vulkansee in Mittelamerika nahm das Kakao-Ritual seinen Weg um die Welt. Jedes Wochenende treffen sich Menschen in New York und Paris, San Francisco und Kopenhagen, Berlin und Hamburg zum kollektiven Kakao, bei angenehm entschleunigter Musik. Kakao? Dieses pulverige Zuckerzeug, mit dem Kinder die Milch tunen? Aber nein: roher Kakao ist bröckelig wie trockener Lehm, reichhaltig und erdig, bitter wie Schokolade mit hohem Kakaoanteil.
"Kakao ist die Medizin unserer Zeit"
"Kakao ist die Medizin unserer Zeit", sagt Wilson. Und er ist der Medizinmann. Er hat die weltweit erfolgreichen Kakao-Rituale erfunden, hier in San Marcos am Lake Atitlan, wo sich Zahnarztkinder in flattrige Gewänder hüllen, Yoga und Meditation üben und mithilfe von Kröten, Pilzen, Kakteen und Lianen auf jene psychedelischen Reisen gehen, die schon Aldous Huxley, Ernst Jünger und die kalifornischen Urhippies unternahmen.
Wilson rührt und berichtet, wie ihm angeblich eines Tages der Kakaogeist – "Es ist eine Frau" – beim Meditieren erschien und seinen Lebensauftrag erteilte: Trage die heilende Wirkung des Kakaos in die Welt. Jahrelang fuhr Wilson seither von Plantage zu Plantage, testete Sorten und Wirkstoffe, bis er die ideale Pflanze für den Anbau auf fast 2.000 Meter Höhe gefunden hatte. Der Baum blüht ganzjährig, liefert zweimal im Jahr die Frucht mit den Bohnen, die fermentiert werden.
Heute versendet Keith Wilson jährlich über 10.000 Kilogramm seines Ritualkakaos in alle Welt. Und hat nebenbei den Ureinwohnern, Nachkommen der Maya, eine verlässliche Einnahmequelle eröffnet. Die magische Wirkung des Kakaos kennen die südamerikanischen Hochkulturen seit 4.000 Jahren. Wenn sich die Menschheit zu weit von der Natur entferne, so heißt es in den alten Sagen, käme der Kakao und versöhne die Welt.
Keith schleppt den Emailletopf auf die Veranda, wo die Kundschaft wartet. Eine Kelle pro Teilnehmer in die bunten Plastikbecher, jeder süßt nach Belieben oder heizt den Drink mit Chilipulver. Wilson ruft ein paar gute Geister herbei, dann darf getrunken werden. Warm und weich rinnt der Trunk die Kehle hinab. Und jetzt? Verstohlene Blicke in die Runde: Verdreht jemand die Augen? Kichern irgendwo? Merkt wer was?
Kein Rausch, aber ein warmes Gefühl
Kakao schleicht sich sanft an, weder Rausch wie bei Alkohol noch Kaffeehektik. Wärme breitet sich im Körper aus und umschließt das Herz. Keith läuft gemächlich im Kreis. Wer mag, teilt seine Sorgen, Ängste, Wünsche, Hoffnungen. Plötzlich hockt er vor einer jungen Frau mit traurigem Gesicht. "You are a shiteater", sagt Wilson. Die Frau blickt erschrocken auf. Die Runde hält den Atem an. Du Dreckfresser – das ist kein herzenswarmer Auftakt.
Keith fragt: Berührt dich das Elend anderer Menschen? Fällst Du in tiefe Trauer, wenn du im Fernsehen von Katastrophen erfährst? Hast Du das Gefühl, am Elend der Welt zu ersticken? Die Frau nickt stumm und weint. "Du hast ein großes Herz", sagt Keith, "aber es hilft niemandem, wenn Du Leid nur nachfühlst." Die Frau guckt fragend. Erst wer vom Fühlen zum Handeln komme, der verändere die Welt, erklärt der Schamane, ganz gleich ob mit Spenden, Entwicklungshilfe, sozialer Arbeit. So lasse sich das gefühlte Ersticken zum Positiven transformieren. Küchenpsychologie? Vielleicht. Aber die Frau blickt dankbar und lächelt. Die Runde ist gespannt. Wer mag als Nächster an der Reihe sein? Am Ende lächeln die Menschen versonnen vor sich hin, umarmen einander und danken Wilson für eine friedliche Herzensreise.
Tanzzeremonie auf Kakao statt Ballermann-Gegröle
Zwei Tage zuvor hatte San Marcos eine große Tanzzeremonie auf Kakao erlebt, angenehmer Gegenentwurf zum saufseligen Ballermann-Gegröle. 200 überwiegend junge Menschen aus aller Welt waren ins Eagles Nest gekommen, einem gewaltigen Bambusplateau hoch über Dorf und See. Mose, der legendäre DJ aus Colorado, hatte sein neues Set präsentiert, eine mehrstündige Soundcollage aus entspannten Elektrobeats, mal psychedelisch, dann wieder handfest, Techno auf Valium, eher Schilf im Wind als Presslufthammer. Vier, fünf Stunden lang wogten die Menschen auf dem Deck, manche für sich allein mit der faszinierenden Aussicht, in Paaren oder Gruppen. Kein Alkohol, null Aggression, einvernehmlich – so stellen sich Romantiker das globale Miteinander in einer märchenhaften Zeit nach Trump, Putin und Facebook vor. War es der Kakao? Die Musik? Der kollektive Wunsch, nett miteinander umzugehen? Am Ende jedenfalls geht jeder mit beseeltem Lächeln.
"Keith ist ein besonderer Mensch", sagt Melissa Honeybee, die als DJane Alma Omega in London, Zürich, vor allem aber in Berlin ihre Tanznächte anbietet, nachdem sie vor fünf Jahren die Kunst der Kakao-Zeremonie bei Wilson gelernt hat. "Magische Zusammenkünfte" nennt sie ihre stets ausgebuchten Partynächte, die so friedlich ablaufen wie im Eagles Nest. Die Tanzabende bedienen offenbar das Bedürfnis junger Großstädter: keine Hetze, kein tumbes Gebagger, kaum Smartphone-Geglotze. Wenn Kakao die neue Szenedroge ist, dürfen Eltern, Richter und Notärzte entspannen.