Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Der ganz normale Wahnsinn" Blutspuren und ein Schneidezahn im Dämmerlicht
Manche Tage sind einfach rekorddoof! Ich rase von der Arbeit mit dem Fahrrad im Regen zur Zahnprophylaxe, komme ausnahmsweise mal pünktlich, und da sagen die zu mir: "Hä? Sie haben den Termin doch abgesagt!" Hatte ich das, frage ich mich, – und meine eigene Absage wieder vergessen?
"Nee, das wüsste ich", sage ich. "Das habe ich definitiv nicht." Während die Arzthelferin verwirrt auf den Kalender starrt, in dem hinter meinem Namen ein roter Punkt steht – alle anderen haben einen grünen – feile ich schon an einer resoluten Formulierung, mit der ich es am Ende erreichen würde, keinesfalls unverrichteter Dinge, also ungereinigten Zahnes, diese Praxis zu verlassen. Schließlich habe ich Wichtigeres zu tun, als umsonst in Zahnarztpraxen zu rasen!
Die Frau geht in eines der Behandlungszimmer, bemüht, den Fall aufzuklären, da stellt sich heraus: Es gibt doch taaaatsächlich eine weitere Larissa Koch, die genau auch heute, an diesem frühen Abend einen Termin hatte (Ich schwör's!) und ihren abgesagt hat (sie wird schon wissen, warum). Unglaublich!! Und da war die künstliche Intelligenz so klug, gleich Tabula rasa zu machen, und warf alle Larissa Kochs aus dem Kalender. Das kann man ihr nicht verübeln, so doof kann man doch gar nicht denken, erst recht nicht als künstliche Intelligenz.
"Ruf sofort an!"
Glücklicherweise hat meine Zahnfee trotzdem Zeit für mich. Während sie noch vom tollen neuen filigranen Ultraschall-Kratzer schwärmt, der viel schmerzfreier sei als der bisherige, schließe ich bereits die Augen und lasse die Prozedur über mich ergehen.
Mitten in der Reinigung – die Zahnfee schabt gerade ganz oben hinten links herum – klingelt mein Handy. Das macht mich unruhig. Wer könnte das sein?Die Zahnfee kratzt unbeirrt weiter und ignoriert ABSICHTLICH mein Klingeln. Ich bin ja in diesem Moment quasi mundtot (ein für mich schrecklicher Zustand) und mache lediglich ein Geräusch, in das ich die gesamte Bedeutung meiner Gedanken zu legen versuche: "Sorry, hab vergessen, es auszuschalten, wer ist das bloß? Mmmm, tja, könnte wichtig sein, dürfte ich da vielleicht mal rangehen?" Sie versteht es nicht.
Jetzt höre ich das "Pling" einer WhatsApp-Nachricht. Ich werde noch unruhiger. Als die Zahnfee absetzt, um eine Art Sandstrahlgerät aufzuschrauben, frage ich kleinlaut, "Darf ich bitte mal ganz kurz auf mein Handy schauen? Wenn man Kinder hat, weiß man ja nie." "Na klar, das kenne ich", sagt sie. Beim Blick auf das Gerät – drei Anrufe in Abwesenheit meines Exmannes, dem Vater unserer Kids (Ganz untypisch!) und einer WhatsApp-Nachricht "Ruf sofort an!" – wird mir alles klar: Es ist was Schlimmes. Rückruf. Er geht sofort ran, beschwert sich, dass ich nicht erreichbar bin. Ich verteidige mich, dass ich auf dem Behandlungsstuhl sitze und schließlich nicht IMMER am Telefon hängen könne (Tue ich nicht gerade wieder genau das?).
Ich zittere
Selbst in der größten Notlage finden Eltern noch Zeit für Streit, und wenn er auch noch so überflüssig ist, der passt IMMER rein. "Leni ist von meinem Gepäckträger gerutscht und frontal aufs Gesicht gefallen, sie blutet stark und hat sich offenbar mehrere Zähne ausgeschlagen – der Rettungswagen kommt gleich und ich fahre mit ihr in die Notaufnahme."
"Oh Gott! Wie konnte das passieren?!", frage ich in einer Mischung aus Herzschmerz, Entgeisterung und der obligatorischen Prise Vorwurf. Ich zittere. Sie habe sich nicht abgestützt, sei direkt auf den Mund gefallen, er könne sich das nicht erklären. Nach dem ersten Schreck habe sie sich halbwegs beruhigt, sei aber sehr blass und ein bisschen unter Schock, jetzt müsse man sie durchchecken, auf Gehirnerschütterung, Kieferverletzungen etc. Inzwischen ist er sich ziemlich sicher, dass sie doch nur einen Zahn verloren hat – oben. "Dann ist es ein Milchzahn!", rufe ich erleichtert, denn ich weiß, oben war ihr noch keiner ausgefallen. Unten hingegen hat sie bereits zwei Lücken, weshalb ihr Mund mit all dem Blut im ersten Moment wohl ziemlich leer ausgesehen haben muss. Die Zahnfee stellt Fragen und kommentiert mein Gespräch: "Sind es Milchzähne? Dann ist es nicht schlimm." "Fahren Sie bloß nicht in die Rettungsstelle, da warten Sie Stunden, fahren Sie lieber da und da hin!". Ich bombardiere meinen Exmann abwechselnd mit meinen Fragen und Anmerkungen und den Hinweisen der Zahnfee. Er aber bleibt unbeirrt und fährt Richtung Klinik.
Ich muss umgehend den Zahn holen
In der ersehnten Ausspülpause schreibe ich schnell noch eine Nachricht an meinen Exmann, um zu fragen, ob er unseren Sohn schon aus der Kita abgeholt oder ob er ihn vergessen hat. Nein, er hätte schnell unsere Nachbarin angesetzt, die ihn zu sich holte. Ich sei ja nicht erreichbar gewesen.
Endlich bin ich fertig. Ich muss den Zahn holen. Er müsse da noch irgendwo rumliegen, wurde ich grob instruiert. Er wird noch gebraucht – für die echte Zahnfee, sonst würde es ein Drama geben. Na toll, ich weiß nur, an welcher Ampel und auf welcher Straßenseite der winzige Schneidezahn im Dämmerlicht liegen müsste. Ich suche kriminologisch genau nach Blutspuren. Ich finde einen Schlüssel. Er sieht aus wie der Schulspind-Schlüssel, den unsere Tochter seit wenigen Tagen stolz an einem Schlüsselband trägt, zusammen mit sieben überdimensionierten Schlüsselanhängern (Flamingos, Kuscheltiere, Einhörner etc.). Der kleine Schlüssel liegt nun lose auf den Gehwegplatten.
Ich entdecke erste Blutspuren. Meine arme Maus!!! Dann weitere. Hier muss der Zahn irgendwo sein, ganz in der Nähe. Ich knie bereits auf dem Bürgersteig. Es ist mir egal, ich habe keine Kraft mehr zum Hocken, außerdem bin ich so näher am Boden. Eine Frau spricht mich an, ob sie mir helfen könne. "Ich suche einen Schneidezahn", sage ich. "Einen Schneidezahn?!", fragt sie ungläubig. "Ja, von meiner Tochter." Wir schmunzeln beide. Sie hilft mir tatsächlich bei der Suche und während ich den Boden abtaste, weil meine Augen nichts mehr finden, erzähle ich ihr grob den Hergang des Unfalls. Da! Da ist er!! Ich habe den Zahn gefunden!
Puh, was für ein Glück. Ich fotografiere ihn ab. Mein Exmann will den Zahn sehen, um die Ärzte zu fragen, ob noch was von ihm im Kiefer steckt oder ob er ganz raus ist.
Und dann auch noch eine Rewe-Lieferung
Er ruft wieder an: "Ich erwarte dummerweise eine Rewe-Lieferung, die müsste in der nächsten Stunde kommen, kannst Du bitte einen Zettel an meine Tür kleben mit Deiner Nummer und ihnen dann aufmachen?" Wir wohnen nur wenige Meter voneinander entfernt. Auch das noch, denke ich. Ich gehe in die Apotheke und bitte um ein Post-it und einen Stift, laufe bis zu seinem Haus und hefte die Nachricht an die Tür, cancele meinen eigenen Einkauf und gehe zur Nachbarin.
Ich will zu meinem Sohn! Interessanterweise überträgt sich in solchen Notfällen das unbändige Kümmergefühl, das man dann hat, auf das unverletzte Kind (sofern eins da ist), wenn das verletzte nicht greifbar ist. Julius hingegen, will wenig von meinen Liebesbekundungen wissen, als ich abgehetzt und nähebedürftig bei ihm ankomme. Er thront im Drehstuhl und hat mit dem Dschungelbuch auf Youtube und einem halben Blech Apfelkuchen bereits andere Prioritäten.
Egal! Ich falle meiner Nachbarin in die Arme und esse die andere Hälfte des Blechs. Dabei bauen wir die Fragmente unserer jeweiligen Blickwinkel der Geschichte zusammen. Sie beschreibt, wie sie meine Tochter dort liegen sah, auf eine Jacke gebettet, die Beine hochgelagert auf ihren Ranzen. Die Arme habe furchtbar ausgesehen, sie hätte dann aber gleich weiter gemusst, weil sie ja Julius holen sollte.
Ich bin bereits zu Rotwein übergegangen
Zwischendurch – ich bin bereits zu Rotwein übergegangen – schreibe ich mit meinem Exmann, der mir nach und nach die Untersuchungsergebnisse (Kopf, Ultraschall vom Bauchraum) durchgibt. Inzwischen weiß er auch, dass unsere Tochter einen kurzen Moment mehrere Finger in ihren Armreif gesteckt hatte, während sie auf dem Gepäckträger saß, dabei das Gleichgewicht verlor und quasi mit gefesselten Händen nach vorn fiel. Nun warten sie auf den Kieferchirurgen.
Das würde ein langer Abend auf der Rettungsstelle, das ist jetzt schon klar. Ich besorge schnell noch ein winziges Präsent, das dann morgen früh von der Zahnfee auf dem Küchentisch liegen würde, schnappe mir dann mein Söhnchen und bringe ihn bei meinem Exmann zu Hause ins Bett. Rewe war immer noch nicht da. Bei der Piratengeschichte in der Horizontalen fallen mir fast die Augen zu, aber ein "Mama, weiiiiter!" holt mich zurück in die Realität von Seeräubern und Goldschätzen.
Als ich nach 21 Uhr das Buch zuklappe und aus dem Zimmer schlurfe, kommen mein Exmann und meine Tochter zur Tür rein. Sie hat große geschwollene Lippen und sieht so mitgenommen und süß zugleich aus und auch ein bisschen stolz. Ich drücke sie vorsichtig an mich und lasse mir erzählen, wie das passieren konnte. Mein Exmann holt Eis am Stiel aus dem Gefrierfach – er hatte es ihr versprochen und sie kann ja nichts kauen. Der Kühlschrank ist eh leer. Und dann höre ich ein leises Tapsen im Flur. Julius ist wieder aus seinem Bett gekrochen und sagt "Ich will auch Eis!" Und so sitzen wir nun alle am Küchentisch, essen Eis und trinken Wein und Leni erzählt stolz von ihrem Unfall. Ich berichte, dass sich mehrere Eltern bei mir gemeldet haben, die sie gesehen hatten, als der Rettungswagen kam, lese ihr die Nachrichten vor, beschreibe, wie ich den Zahn suchte, und mein Exmann erzählt von den schrecklichen Zuständen auf der Rettungsstelle.
Es ist inzwischen 22 Uhr. Ich will los, küsse meine Tochter und sie sagt: "Mama, du bist sandig im Gesicht." Ich fasse mir ins Gesicht und merke: Ich habe überall noch die Politur von der Prophylaxe um den Mund und auf den Wangen kleben. Ich sage: "Das ist kein Sand, das ist der Staub der Zahnfee. Leg deinen Zahn unters Kopfkissen. Morgen wird sie dir etwas bringen."
Larissa Koch ist Redakteurin bei t-online.de und hat zwei Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren. In ihrer Kolumne "Der ganz normale Wahnsinn" beschreibt sie regelmäßig, was Eltern durchmachen müssen oder dürfen – je nachdem.