Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rezension zum Buch: "Wer braucht denn noch Sex?" Vom Dauer-Porno zur toten Hose
Mit dem Sex sei es wie mit Erdbeerkuchen, findet Autor Jörg Zittlau. Hin und wieder sei er ein Genuss, gäbe es ihn aber täglich, würde ihn niemand mehr haben wollen. In seinem Ratgeber "Wer braucht denn noch Sex?" (Gütersloher Verlagshaus) geht er der Frage nach, warum in unseren Betten immer seltener die Lust regiert – und warum das eigentlich gar nicht schlimm ist.
Laut Zittlau ist das Hauptproblem der Lustlosigkeit, dass Sex im heutigen Zeitalter überall zu finden ist: "Im Internet flimmern 30.000 Pornofilme pro Sekunde und über 400 Millionen einschlägige Webseiten liefern dort alles, was das sexbesessene Herz begehrt." Daneben finde man Annoncen für den kleinen sexuellen Hunger zwischendurch, Flirt- und Sextipps sowohl in Magazinen als auch im Internet, massenhaft Erotik in der Werbung sowie Sexenthüllungen von Prominenten und solchen, die es gerne wären. "Zu viel? Eindeutig zu viel. Die Lust bleibt dabei auf der Strecke", schreibt Zittlau.
Stress killt die Lust
Auch Stress killt die Lust, wie Zittlau weiß. Es gebe Umfragen, die Stress als Hauptfaktor für die Pleite im Bett aufzeigen. Verwunderlich findet der Autor das nicht: Wer immer nur auf Flucht und Kampf eingestellt sei, habe kaum noch Energie für Spaß im Bett.
Aber auch der Sex selbst kann zum Stressfaktor werden. Männer, die immer können müssen und Frauen, die immer Lust haben sollen – dieses Trugbild sei nicht einzuhalten, betont Zittlau. Viele Paare fühlen sich durch die falschen "Leitbilder" unter Druck gesetzt – und die Leidenschaft bleibt gerade deshalb auf der Strecke: "Laut einer Umfrage der Zeitschrift "Fit for Fun", durchgeführt an 1000 Bundesbürgern im Alter von 18 bis 55 Jahren, empfinden 58 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen den Sex vor allem als Pflichtübung, die eher zu Verkrampfungen als zur Lustbefriedigung führt", schreibt der Autor.
Kaum noch Sex ab 40
Die Folgen dieser und anderer Faktoren seien deutlich erkennbar, schreibt Zittlau: Vor 30 Jahren hätten die 18- bis 30-jährigen Deutschen noch etwa 22 bis 28 Mal im Monat Sex gehabt. Heute seien es gerade noch vier bis zehn Mal. Die 41- bis 50-Jährigen würden es gerade noch auf zwei bis drei Intimkontakte pro Monat bringen.
Süßigkeiten und Smartphones lassen die Lust weit hinter sich: "40 Prozent aller Frauen in Deutschland naschen lieber jeden zweiten Tag an ihrer Schokolade, anstatt sich beim Koitus abzuschwitzen", schreibt der Autor. Zudem hätten verschiedene Umfragen gezeigt, dass Jugendliche eher auf Sex als auf ihr Handy verzichten möchten.
Es gibt Besseres als Sex
"Wir dürfen der Lust mehr Lauf lassen als jemals zuvor – doch sie nutzt diese Freiheit, um uns zu verlassen", so das Fazit von Zittlau. Tipps, wie Paare ihre Leidenschaft wiederentdecken, wird man in dem Ratgeber allerdings vergeblich suchen. Denn laut Zittlau ist Sex nämlich gar nicht so wichtig, wie wir denken. Was wirklich zähle, sei die Strategie des "Endlich-haben-wir-mehr-Zeit-für-Besseres-als Sex". Schließlich betrage die Gesamtzeit aller Orgasmen eines Menschenlebens gerade mal fünf Stunden. "Was vor dem Hintergrund einer Lebenserwartung von mittlerweile über 80 Jahren geradezu lächerlich ist", wie Zittlau findet. Wir sollten aufhören zu jammern und einen anderen Weg gehen, so sein klares Statement. Es sei eigentlich gar nicht so schlecht, wenn der Sex langsam bedeutungslos werde. Der Autor geht in seiner Auffassung sogar so weit, dass er sagt, die Welt wäre ohne Sex viel friedlicher.
Ganz ohne Sex geht es aber doch nicht
In der Theorie ist das schön und gut. Aber kann das in der Praxis wirklich klappen? Ist Sex wirklich so unbedeutend? Schließlich können die intensiven Gefühle beim Sex das Paar durchaus wieder näher zueinander bringen. Der Autor mildert seine Aussage dann doch etwas ab: "Enthaltsamkeit bereitet letzten Endes genauso wenig Spaß wie unerfüllter Sex." Man solle den Sex entspannter sehen und realistisch einstufen als das, was er ist: "Nämlich als eine Lust, die zwar gerne so tut, als drehe sich alles nur um sie, die in Wahrheit aber nur eine von vielen Lüsten ist, die wir nicht unmittelbar zum Überleben brauchen."
Frauen kommen mit fehlender Lust gut zurecht
Besonders im fortgeschrittenen Alter scheinen sich Paare geradezu nach genau dieser entspannten Einstellung zu sehnen. Gerade Frauen stört ihre fehlende Lust in vielen Fällen nicht. Das zeigt die "Preside-Studie" von 2008 mit fast 32.000 erwachsenen Frauen, auf die sich Zittlau bezieht: "40 Prozent der Frauen berichteten, dass ihnen schlechthin das Verlangen nach Sex fehlen würde. Allerdings verspürten lediglich ein Viertel dieser Probandinnen wegen ihrer Unlust einen starken Leidensdruck."
Und bei diesem Viertel müsse man sich wiederum fragen, ob sie unter ihrer Unlust nur deshalb litten, weil ihr Partner ein Problem damit hatte. Es scheine vielmehr so zu sein, dass die meisten Frauen gut mit ihrer Unlust zurechtkommen, so die Schlussfolgerung des Autors.
Männer sind immer seltener aktiv
Laut Zittlau sieht die Situation auch bei den Männern nicht viel anders aus. Sie wären zwar gerne Wesen, die immer und bis ins hohe Alter Lust haben, doch die Fakten zeigten ein anderes Bild. Nach Angaben des Institutes für Sexualforschung am Hamburger Klinikum Eppendorf leiden heute über 20 Prozent der Männer an sexueller Unlust. Laut einer Umfrage der Uniklinik Heidelberg klagt sogar jeder fünfte Mann über eine nachlassende Libido, weiß der Autor zu berichten.
Sex ist nicht das Wichtigste
Zeit also, entspannter zu werden und das Gefühl abzulegen, nicht normal zu sein, wenn die Lust sich nicht blicken lässt, findet Zittlau. Zumal Leidenschaft allein seiner Ansicht nach sowieso nicht dafür geeignet ist, die Partnerschaft zu stützen: "Sexualität ist denkbar ungeeignet für den Aufbau und Erhalt einer stabilen Partnerschaft. Triebe und Liebe passen nicht zusammen. Wer tatsächlich eine stabile Liebesbeziehung zu jemandem aufbauen will, sollte sich nicht, wie es Paartherapeuten weithin predigen, darum bemühen, den Sex miteinander lebendig zu halten - was mit ein und demselben Partner ohnehin nicht funktionieren kann."
Was Ehen wirklich zusammenhält
Viel wichtiger sei, die Welt auf ähnliche Weise zu erleben und auf hoher Qualität miteinander zu kommunizieren, betont der Autor und verweist auf eine Studie der Stuttgarter Sozialwissenschaftlerin Gabriela Schmid-Kloss. Diese hatte sechs Ehepaare, die bereits seit 35 Jahren zusammenleben, nach ihrem Beziehungsgeheimnis befragt. Bei Wertvorstellungen und moralischen Fragen gilt: Gleich und gleich gesellt sich gern. "Was aber nicht bedeutet, dass sich die Interessen hundertprozentig decken müssen", sagt Zittlau.
Unterschiedliche Hobbys und Leidenschaften seien für die Beziehung sogar förderlich, weil so jeder seinen ganz persönlichen Freiraum habe. Die Basis einer Beziehung sollten Toleranz, Verständnis und Vertrauen bilden. "Sex spielte fast in allen Studien zur Ehestabilisierung keine Rolle", schreibt Zittlau.
Entspannter Sex ohne Erfüllungsdruck
Der Autor rät, für einen entspannten Umgang mit dem Sex weder sich selbst noch den Partner unter Erfüllungsdruck zu setzen. "Es gibt keine Regeln, wie Sex stattzufinden hat. Aber wenn beide eine unterschiedliche Libido haben, müssen sie darüber reden und einen Konsens finden." Außerdem sei Sex kein Sport. Jedes Paar solle für sich herausfinden, was ihm Spaß macht. Achtsamkeit füreinander sei das Erfolgsrezept.
Unterhaltsamer Ratgeber mit interessanten Einblicken
Wer wissen möchte, warum Sex einem stetigen Wandel unterworfen ist, bekommt die Antworten in diesem Ratgeber unterhaltsam und leichtfüßig dargestellt. Ob man der Meinung des Autors, dass der Verzicht auf Sex alles einfacher macht, zustimmen möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden. In einem hat Zittlau aber Recht: Verzichten Männer und Frauen darauf, es den "Leitbildern" aus Internet und Werbung gleichzutun, nehmen sie eine ganze Menge Druck von sich. Wichtig ist, dass sich das Paar, in dem was es tut, einig ist. Egal, ob sie nun viel oder weniger Sex haben. Denn: So ganz ohne Sex macht es doch auch keinen Spaß, oder?