Fünffache Mutter im Interview "Ich komme mir manchmal vor wie ein Alien"
Wer mehr als drei Kinder hat, gilt als Großfamilie und das sind immerhin 1,4 Millionen Familien in Deutschland - Patchworkfamilien noch gar nicht eingerechnet. Stempel werden da schnell verteilt: entweder man ist elitär oder aber asozial. Vorurteile dieser Art machen Daniela Nagel wütend. Die 36-Jährige ist fünffache Mutter und gehört damit zu den rund 97.000 deutschen Familien, die fünf oder mehr Kinder haben. In ihrem Buch "Fünf Kinder? Sie Ärmste! - Ein Survivalguide für gelassene Mehrfachmütter" betont sie vor allem die Notwendigkeit von Netzwerken, um als Großfamilie heutzutage zu bestehen. Gründe, warum man viele Kinder haben sollte, finden Sie hier.
Das Bild, das viele von einer Großfamilie im Kopf haben, ist oft negativ behaftet, grenzt schon ein bisschen ans Asoziale, Vernachlässigte - ist Ihnen diese Ansicht auch schon begegnet?
Nagel: Ja, damit wird man immer wieder konfrontiert, wenn man viele Kinder hat. Schon als ich mit unseren Zwillingen, also dem dritten und vierten Kind, schwanger war, kam zum Beispiel von einem Bekannten eine Bemerkung diesbezüglich: "Das finde ich asozial." Als ich dann mit unserem Kleinsten schwanger war, habe ich mal gegoogelt und wissen Sie, was dabei herausgekommen ist? Mit fünf Kindern würden wir spätestens zu der bemitleidenswerten Randgruppe gehören, die durch ihre Kinderzahl nicht nur akut armutsgefährdet sei, sondern auch noch mit sozialen Defiziten bei den Kindern zu rechnen hätte. Das kann einem kurzfristig schon die Vorfreude verderben.
Doch statistisch gesehen wächst jedes dritte Kind in einer großen Familie auf und die sind keineswegs alle asozial und auch nicht superreich. Aber mit Bemerkungen muss man trotzdem immer rechnen und wenn es nur eine alte Dame ist, die voll Mitleid fragt, ob denn jetzt nicht langsam mal Schluss wäre. Doch meistens ist die Resonanz positiv, grenzt eher ein bisschen an Bewunderung.
Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Nagel: Ich wollte anderen Müttern Mut machen, denn genau das hätte ich damals auch gebraucht. Man denkt immer, die Zielgruppe sei recht klein. Aber das ist sie nicht. Und es gibt schon über Großfamilien relativ wenig Literatur, aber für Großfamilien gibt es so gut wie gar keine. Mir war es einfach wichtig, auch mal die positiven Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Ich kenne nämlich viele große Familien, bei denen es super läuft. Und natürlich gibt es auch in unserer Familie Probleme, aber ehrlich gesagt, war ich beim ersten Kind oft gestresster als ich es heute mit fünf bin. Der Austausch ist übrigens auch der Grund, warum wir im Verband kinderreicher Familien sind. Denn dann kommt man sich endlich mal nicht mehr vor wie ein Alien. Vor allem, wenn man sich mit Müttern mit mehr als zwei Kindern und zusätzlich beruflichen Ambitionen unterhält und sieht, andere schaffen das auch, ohne selbst dabei völlig unterzugehen.
Jetzt hat ja eine Durchschnittsfamilie schon oft eine Menge Durcheinander, sich überlappende Termine, überquellende Wäschekörbe, verschwundene Turnschuhe etc. Potenziert sich das bei Ihnen nicht noch?
Nagel: Ich bin ziemlich belastbar was Lärm, Dreck, Geschrei und Chaos angeht. Aber ich versuche auch immer, strukturiert zu sein. Das heißt, dass zum Beispiel im morgendlichen Durcheinander immer zuerst dem geholfen wird, der die Hilfe am dringendsten nötig hat.
Mal ehrlich, kommen Sie da auch mal an ihre Grenzen?
Nagel: Klar, gerade morgens, wenn trotz aller Vorbereitung immer wieder Trubel herrscht. Der eine seinen Turnbeutel nicht findet, der andere noch schnell eine Kopie braucht und der dritte noch im Bett liegt, obwohl die Bahn in zwanzig Minuten fährt. Oder wenn die Kinder krank sind. Und auch, wenn ich meinen Haushalt so betrachte - das könnte ein Vollzeitjob sein. Doch damit wäre keinem geholfen, auch mir nicht. Mir ist es wichtiger, den Kleineren noch beim Einschlafen zu helfen. Wir geben unser Bestes und das ist das Wichtigste. Und wir haben ein gutes Netzwerk, das Gold wert ist und das wir auch gerne annehmen. Ohne diese Hilfe von außen wäre manches sehr viel schwieriger beziehungsweise gar nicht möglich.
Haben Sie nie ein schlechtes Gewissen?
Nagel: Doch, ganz oft. Eigentlich dauernd. Und die Kinder sind sehr gut darin, das noch zu verstärken, zum Beispiel mit Sprüchen wie: "Bei anderen sitzt die Mama immer bei den Hausaufgaben dabei." Aber mittlerweile denke ich auch, es ist für die Kinder sicher nicht verkehrt, wenn sie lernen, selbstständig zu arbeiten. Interessant ist in diesem Zusammenhang ja auch die jeweilige Persönlichkeit der Kinder. Dass das oft mehr ausmacht als Erziehung und Förderung, erkennt man umso besser, je mehr Nachwuchs man hat. Für mich sind Kinder wie eine Mischung aus Facebook und Wikipedia. Sie lassen einen in andere Welten eintauchen, ziehen einen mit ihren unterschiedlichen Interessen mit und lassen einen Menschen kennenlernen, mit denen man sich sonst nie beschäftigt hätte.
Apropos Erziehung: Glauben Sie, dass Sie mit so vielen Kindern strenger und konsequenter sein müssen als Familien, in denen nur ein Kind lebt?
Nagel: Das regelt sich von selbst. Schon allein deswegen, weil die Größeren die Kleineren miterziehen und dabei oft viel strenger sind, als ich es gewesen wäre. Ich höre oft von meinen großen Kindern, dass ich mehr durchgreifen müsste. Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch so, dass sie dem Kleinen Dinge beibringen, mit denen er als Einzelkind noch nicht in Berührung gekommen wäre. Ich finde es zwar schon amüsant, aber es ist auch nicht ohne, wenn ein Zweijähriger das Wort "Asloch" für sich entdeckt. Was mir aber noch auffällt, jetzt wo die Größeren ein bisschen ihre eigenen Wege gehen: Es ist manchmal schwieriger, mit einem kleinen Kind einkaufen zu gehen als früher mit der ganzen Mannschaft.
Bekommt man als Großfamilienmama auch mal Gegenwind, weil die Kinder immer wieder das Gefühl haben, zu kurz zu kommen?
Nagel: Darüber beschweren sich meine Kinder häufig. Aber das tun alle, selbst Einzelkinder. Denen ist es dann vielleicht zu viel Aufmerksamkeit von Seiten der Eltern. Man muss das ja so sehen: Wenn sie sich beschweren, dann ist das ja auch gut, weil sie Vertrauen zu einem haben. Und zum Glück überwiegen sowieso die positiven Rückmeldungen unserer Kinder.
Glauben Sie, dass man es sich als Fünffachmutter fünfmal mehr überlegt, ob man sich trennt, wenn es nicht mehr so gut läuft?
Nagel: Ich fürchte ja. Man braucht bei vielen Kindern schon Menschen an der Seite, die einen unterstützen, im optimalen Fall natürlich der Partner. Aber das kann auch ein Netzwerk aus anderen Müttern, den Großeltern oder anderen Möglichkeiten sein. Ich überlege natürlich schon immer wieder, was wäre wenn. Wenn einer von uns krank werden würde oder arbeitslos. Denn schließlich ist es zweifelsohne einfacher, ein oder zwei Kinder gut durchzubringen als fünf oder mehr Kinder. Aber ich war da, was uns angeht, schon immer optimistisch. Allerdings muss man auch realistisch sein: Alleinerziehend, ohne Netzwerk oder gute Ausbildung ist es schon mit wenigen Kindern hart, als Großfamilie aber nur schwer zu stemmen.
Wenn Sie sich etwas vom Staat wünschen dürften, was wäre das?
Nagel: Ich finde, eine andere Besteuerung wäre schön. Damit es sich mehr bemerkbar macht, viele Kinder zu haben. Aber auch die Grenzen für den Zweitverdiener sollten anders gesetzt sein. Denn es ist ja schön, dass es Krankenversicherung und Rentenkasse gibt, aber wenn unter dem Strich kaum etwas übrigbleibt, das man zum Lebensunterhalt beisteuern kann, dann ist das frustrierend. Ich wünsche mir, dass das Image großer Familien allgemein verbessert wird, die Rahmenbedingungen verbessert werden. Stichworte wie Familiensplitting, Teilzeitjobs oder Telearbeitsplätze sind hier wichtig. Und ich wünsche mir, dass sich keiner mehr dafür rechtfertigen muss, dass er viele Kinder hat.
Sie schreiben in Ihrem Buch, Sie hatten vor jedem Kind das Gefühl, da schwebt noch einer durch die Lüfte, der materialisiert werden will. Schwebt da jetzt noch einer?
Nagel: Nein, da ist keiner mehr oder wenn, dann hat er sich sehr gut versteckt. Wir waren immer sehr offen, was das angeht. Und wenn es so wäre, dann wäre es auch gut. Aber ich finde es auch wichtig, dass man seine Grenzen erkennt. Dass man sieht, was möglich ist. Ich würde sagen, bei einem weiteren Kind würden die anderen zu kurz kommen und wir auch. Umso witziger finde ich es, wenn es mir mal schlecht ist und so mancher aus meinem Umfeld daraufhin zusammenzuckt.