Erziehungsdebatte Freilaufende Kinder - ist das überhaupt pädagogisch?
In Watte gepackt, bespaßt und gepampert bis zur Volljährigkeit - nicht die Kinder brauchen das, sondern immer mehr die Eltern von heute, die ohne 24-Stunden-Überwachung ihrer Kinder nicht leben können. Bei Tieren wäre das nicht artgerecht, bei Menschen heißt das "überbehütet" von Helikopter-Eltern. Wie sollen Kinder sich dabei zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln? Wir brauchen "freilaufende" Kinder, fordert die einst als "schlechteste Mutter der Welt" geschmäht Lenore Skenazy und erzieht die Eltern um.
Es begann mit einem Experiment. Die Journalistin Lenore Skenazy schickte vor fünf Jahren ihren damals neunjährigen Sohn Izzy alleine mit der New Yorker U-Bahn los. In der Stadt ausgesetzt und ausgestattet mit Stadtplan, Fahrkarte, Telefonmünzen und 20 Dollar für den Notfall, war er eine dreiviertel Stunde später zu Hause. Es war übrigens seine eigene Idee.
Free-range-Kids meistern Herausforderungen
Die Kolumne, die sie damals darüber schrieb, löste eine Schockwelle aus. Empörung über die "schlechteste Mutter der Welt" auf allen TV-Kanälen war die Folge mit Vorwürfen, das Kind zu missbrauchen. Andere Leser-Reaktionen waren zahlreiche Erinnerungen an die eigene Kindheit, an das Erlernen von Selbständigkeit, an Mutproben und an Spielen ohne Eltern-Kontrolle.
Heute formuliert Skenazy ein pädagogisches Konzept daraus als Gegenentwurf zur allgemein herrschenden Überbehütung durch die Helikopter-Eltern: "Free-range Kids", freilaufende Kinder heißt ihr Ansatz, mit dem sie die Watteverpackung um die Kinder zerreißen will. Ihre Sendung heißt dementsprechend auch "Bubble Wrap Kids", Bubble wraps bedeutet Luftpolsterverpackung.
Spielen wie früher
Sie ist keine Pädagogin, das betont die New Yorkerin, aber ähnlich der "Super-Nanny" coacht sie Familien. Doch nicht die Kinder, sondern die Eltern stehen im Fokus. "Slow parenting" nennt sie das, zurück zur guten alten Zeit, als Kinder noch alleine spielen durften, keine Lernspiele, sondern einfach draußen sein, springen, trödeln, träumen, toben, klettern. Als Kinder auch mal stürzen durften und mit Schrammen heim kamen oder die Zähne zusammenbissen, damit Mama und Papa nichts merkten.
Eltern wittern überall Gefahren
Eltern dagegen lebten heute in ständiger Sorge, ihren Kindern könnte etwas passieren und überall lauerten Gefahren durch Entführer, Bakterien, Pädophile, ungesundes Essen, Tiere, Mobber, Autos, so Skenazy.
Sie bleibt nicht in der Nostalgie stecken, sie überträgt diese Erfahrungen in die moderne Zeit und in den Großstadtdschungel. Eltern, die ihre Kinder von der Geburt bis zum Schulabschluss überallhin chauffieren und dann auch noch Ausbildungsplatz, Wohnung und Uni für sie suchen, sind ihr ein Gräuel. Ihrer Meinung nach ist die heranwachsende Generation weit weniger kompetent in Alltagsdingen und dem Leben weniger gewachsen als jede Generation zuvor. Probleme selbst zu lösen, Phasen von Langeweile oder Anstrengung durchzuhalten, ist ihnen fremd. Das untermauern Fakten, wie die, dass immer weniger Kinder Fahrrad fahren oder schwimmen können.
Zeitintensives Erlernen der Selbständigkeit
Jedes getötete Kind steht für eine Tragödie. Skenazys Konzept bedeutet aber keinesfalls Vernachlässigung, denn die Vorbereitung und Begleitung in die Selbständigkeit ist zeitintensiv und braucht starke Nerven, Sicherheit spielt auch für sie eine große Rolle. Allein das Trainieren, wie man sicher über die Straße kommt, den Kindern immer wieder zu erklären, nach allen Seiten zu sehen, braucht Zeit und Geduld. Kinder müssen Grenzen kennen, sie müssen wissen, dass sie mit Fremden sprechen, aber nicht mit ihnen mitgehen dürfen.
Die Herausforderungen, die sie in ihrer Sendung den Familien stellt, lässt Eltern an ihre Grenzen kommen. "Bringt euren Kindern bei, sich klug und sicher zu verhalten, anstatt sie neurotisch in Watte zu packen." In diesem Zusammenhang ruft sie jedes Jahr im Mai zu einem "Bringen wir unsere Kinder in den Park ... und lassen wir sie da"-Tag auf. Schwer für Eltern, die das Loslassen üben müssen, Spaß für die Kids.
Ihre Argumente begründet sie mit Statistiken. 25-mal mehr Kinder sterben demnach bei Unfällen in Autos von Menschen, die sich um sie sorgen als durch Entführer. Statistisch gesehen müsste ein Kind 650.000 Jahre draußen sein, um gekidnappt zu werden, verrät sie in einem Interview der Zeitschrift "Nido".
Medien schüren die Panik der Eltern
Die Wahrnehmung hat sich verändert, Nachrichten und TV-Serien kriminalisieren die Umgebung und schüren Panik, während die tatsächliche Kriminalitätsrate gesunken ist. Ihr Appell: Mit dem "Worst-First-Thinking" aufhören, also damit, immer das Schlechteste anzunehmen.
Kinderleben außerhalb des Käfigs
Auf ihrer Website schreibt Skenazy: Kinder verdienen genauso wie Hühner ein Leben außerhalb von Käfigen. Ein überbehütetes Leben lässt uns verkümmern und erdrückt uns. Außerdem ist es langweilig für alle Beteiligten.