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Mein Kind ist ein Neonazi


Mein Kind ist ein Neonazi
Mein Kind ist ein Neonazi

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

03.04.2012Lesedauer: 6 Min.
Neonazi-Nachwuchs kommt aus allen Schichten.Vergrößern des Bildes
Neonazi-Nachwuchs kommt aus allen Schichten. (Quelle: dpa-bilder)

Nazi-Rock dröhnt aus dem Kinderzimmer, ausländerfeindliche Sprüche werden lautstark zum Besten gegeben, Hakenkreuze sind auf das Schulmäppchen gekritzelt und auch der Freundeskreis ist nicht mehr der alte. Es ist ein Schock für Eltern, wenn sie feststellen, dass ihr pubertierender Teenager plötzlich mit rechtem Ideengut sympathisiert und sein Leben nach dieser Gesinnung ausrichtet. Dann stellen sich bei den meisten Vätern und Müttern Angst, Ratlosigkeit, aber auch Scham und Schuldgefühle ein. Doch wie sollen Eltern reagieren, wenn ihr Nachwuchs im rechten Milieu Fuß gefasst hat und wie können sie gegensteuern, damit ihr Kind den Weg wieder "zurück" findet? Lesen Sie hier, wie Eltern reagieren sollten, wenn ihr Kind in der rechten Szene aktiv ist.

Immer mehr Jugendliche geraten in das Fahrwasser der rechten Szene

Spätestens seit Aufdeckung der grausamen Morde des Neonazi-Trios aus Zwickau schaut die Öffentlichkeit intensiver denn je auf die rechtsradikale Szene, die in den letzten Jahren vor allem starken Zulauf von Jugendlichen bekommt. Belegt wurde diese Tendenz bereits 2008 in der größten europäische Studie zur Jugendgewalt, die vom Bundesinnenministerium und vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt wurde: 53.000 Jugendliche an 2000 zufällig ausgewählten Schulen in Deutschland wurden befragt, mit dem besorgniserregenden Ergebnis, dass etwa 15 Prozent der Teenager sich selbst als ausländerfeindlich bezeichneten und etwa fünf Prozent sogar von sich sagten, einer rechtsextremen Kameradschaft anzugehören. Der weitaus größte Teil von ihnen waren Jungs.

Mädchen und junge Frauen sind zunehmend in der Szene aktiv

"Etwa zwei Drittel der Aktiven sind männlich, ein Drittel weiblich", weiß Sozialpädagogin Eva Prausner, die sich seit Jahren mit der Thematik beschäftigt und seit 2008 für das vom Land Berlin unterstützte Projekt "Licht-Blicke Eltern Stärken" in Berlin-Lichtenberg arbeitet und dort Mütter und Väter berät, deren Kinder Teil der rechtsextremen Szene sind. "Wir beobachten in letzter Zeit", so die Expertin, "dass immer mehr Mädchen und junge Frauen in diesen Gruppierungen auf dem Vormarsch sind. Sie sehen ihre weibliche Rolle nicht mehr nur als 'Gebärende und Versorgerin des Nachwuchses für die deutsche Volksgemeinschaft', so wie es die Nazi-Ideologie vorsieht. Sie wollen auch politisch aktiv sein, mitmischen und bringen so 'emanzipierte' Akzente in ihr reaktionäres Weltbild."

Neonazi-Nachwuchs kommt aus allen Schichten

Obwohl der soziale Background bei jungen Neonazis sehr unterschiedlich sein kann, melden sich in der Berliner Beratung "Licht-Blicke" fast ausschließlich besorgte Mütter und Väter aus der Mittelschicht, berichtet Eva Prausner: "Sie machen sich das Problem bewusst und gehen den Konflikt an. Es kommen beispielsweise Lehrer, Polizisten oder Bankmanager, die bei uns Rat suchen. Hier ist das Motiv der Kinder nicht selten die Rebellion gegen ein bürgerliches Elternhaus."

Doch grundsätzlich sei Rechtsradikalismus bei Jugendlichen immer noch vorwiegend ein "Unterschichtenproblem", so die erfahrene Sozialpädagogin. Diese Kinder hätten meist ein sehr geringes Selbstbewusstsein - hätten immer vermittelt bekommen, klein und unbedeutend zu sein und erführen auch nicht selten Gewalt in ihren Familien. "Bei einer Neonazi-Kameradschaft", erklärt Eva Prausner weiter, "bekommen sie dann endlich das Gefühl, etwas wert zu sein, zu einer Elite zu gehören und finden gleichzeitig einfache Antworten auf ihre eigene Misere - eingebettet in ein sehr einfaches Weltbild." Dabei sei für die rechtsradikalen Jugendlichen ein besonderer Reiz, dass Gewalt gegen Andersdenkende oder Ausländer in ein ideologisches Gewand gepackt und dadurch als politisches Mittel gerechtfertigt würde, so die Expertin weiter.

Propaganda im Netz hat sich verdreifacht

Um ihren Nachwuchs anzuwerben, bedienen sich die Neonazis vor allem moderner Medien. Gerade im Internet hat die rechte Propaganda stark zugenommen. Dies zeigen Untersuchungen, die die Online-Jugendschutzstelle "jugendschutz.net" vergangenen Sommer veröffentlichte: Im Jahr 2010 wurden danach 6000 rechtsextreme Beiträge in sozialen Online-Netzwerken publiziert. Das seien, so die Erkenntnisse der Studie, rund dreimal so viel wie 2009. Doch die Dunkelziffer liege noch deutlich höher. Hinzu kämen rund 1700 Webseiten, die rechtes Gedankengut verbreiteten. Vor allem die wachsende Aktivität Rechtsextremer in sozialen Netzwerken und auf Videoplattformen, wo eine immense Breitenwirkung erzielt werden kann, bereitet den Extremismus-Experten Sorge.

Problematisch ist auch, dass die Macher solcher Inhalte sehr subtil vorgehen und das im Netz verbreitete rechte Gedankengut oftmals nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen ist, weil das Erscheinungsbild modern gestaltet ist und charakteristische Nazisymbole, Schrifttypen oder einschlägige Logos nicht verwendet werden. Außerdem versuchen sich die Neonazis über aktuelle Themen wie etwa Euro-Krise, Umweltschutz, Atomausstieg oder Integration politisch aufgeschlossen zu präsentieren und sich so zunächst unverfänglich dem potentiellen Nachwuchs zu nähern.

Unpolitische Events machen den Einstieg leicht

Bei allen "Rekrutierungsaktionen" der Neonazis geht es anfangs darum, die Neugier der Jugendlichen zu wecken und ihr Vertrauen zu gewinnen. Haben sie erst einmal Kontakt zu einer solchen Gruppe aufgenommen, wird es den jungen Interessenten leicht gemacht zu bleiben, so die Erfahrungen von Sozialpädagogin Eva Prausner: "Um hier dazu zu gehören, sind die Zugangsbedingungen sehr einfach. Es reicht, wenn man deutsch und weiß ist. Dann wird viel für den Wohlfühlfaktor getan. Es werden Ausflüge unternommen oder Lagerfeuer gemacht. Alles spielt sich zunächst auf einer unpolitischen Event-Ebene ab und die Jugendlichen haben das Gefühl: 'Hier kümmert man sich um mich', erleben Anerkennung und Zugehörigkeit." Erst später würden die "Neuen" mit "Gesinnung gefüttert" und würden nach und nach in die Hierarchie der Kameradschaft integriert.

Musik als Einstiegsdroge

Das beliebteste Mittel, um die Teenager für die rechten Parolen zu begeistern, ist aber die Musik, die im Internet oder über CDs verbreitet wird. "Auch hier ist die Erscheinungsform mittlerweile gut getarnt", weiß Eva Prausner, "denn es gibt nicht mehr nur den typischen aggressiven Punk-Rock mit den entsprechenden deutschsprachigen Hetz-Texten, sondern alle Musikarten, vom Hip-Hop bis zum eingängigen Pop. Die Musik kommt zunächst pluralistisch, weltoffen und harmlos daher und die Jugendlichen werden nicht sofort auf die Inhalte aufmerksam - die rassistischen und propagandistischen sickern dann nach und nach ein."

Der Dresscode verändert sich

Wie viele Jugendszenen hat auch die rechtsextreme einen bestimmten "Dresscode", der die Zugehörigkeit zu der eingeschworenen Gemeinschaft äußerlich sichtbar macht. Doch hat sich auch hier die "Mode" gewandelt, ist unauffälliger geworden. Bomberjacken, Springerstiefel und Glatze gehören nicht mehr unbedingt zum charakteristischen Aussehen. "Auch hier gibt es eine Tendenz zurückhaltender aufzutreten - das grenzt und schreckt weniger ab", erklärt Eva Prausner von "Licht-Blicke". Dennoch würde die Kleidung als Erkennungszeichen weiterhin eine wichtige Rolle spielen, so die Sozialpädagogin weiter: "Bestimmte Labels tragen Aufschriften, die von den Insidern als Codes wahrgenommen werden. Doch diese Codes wechseln und verändern sich auch."

Label-Aufschriften als Nazi-Codes

Lange Zeit war beispielsweise der britische Sportartikelhersteller "Lonsdale", der sich übrigens vehement gegen den "rechten" Missbrauch seiner Produkte wehrt, in der Szene populär. Trug man deren Pullis mit offener Jacke, so verkürzte sich die Labelbezeichnung auf "NSDA". Ähnlich verhält es sich bei den Sweatshirts der deutschen, rechtsorientierten Firma "Consdaple" mit den Buchstaben "NSDAP" in der Mitte. Mittlerweile wurde das Tragen der Kleidung wegen "Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" gerichtlich unter Strafe gestellt.

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Um hier auf dem Laufenden zu bleiben und sich über diese Art der Insider-Kommunikation zu informieren, empfiehlt Eva Prausner besorgten Eltern die gegen rechts engagierte Initiative "Das Versteckspiel". Hier werden alle rechtsradikalen Codes und nationalsozialistischen Symbole akribisch gesammelt, ständig auf den neuesten Stand gebracht und in Broschüren und im Internet veröffentlicht. Entsprechende Informationen erhält man unter anderem auch über "Netz gegen Nazis" und über die Bundeszentrale für politische Bildung.

"Diese Zeit war die Hölle"

Aufgrund solcher "Verschlüsselungen" einerseits und der subtilen Propaganda der Szene andererseits, fällt es vielen Eltern schwer, rechtzeitig zu bemerken, wenn sich ihre Kinder dem Neonazi-Milieu zuwenden. Häufig ist es ein schleichender Prozess: Zuerst ändert sich der Kleidungsstil, dann die Musik und schließlich die Freunde. Exemplarisch dafür stehen die Erfahrungen einer Mutter, die in der Eltern-Informationsbroschüre "Mein Kind- (k)ein Nazi?" des Jugendschutzes der Universitätsstadt Gießen von der rechtsradikalen "Karriere" ihres 15-jährigen Sohnes erzählt: "Ich stellte erst nach und nach kleine Veränderungen bei unserem Max fest", schreibt sie. "Sein Kleidungsstil wurde zunehmend militanter, er interessierte sich plötzlich für deutsche Kriegsgeschichte und in seinem Zimmer zogen nach und nach Fahnen und Symbole ein, deren Bedeutung mir erst nicht klar war."

Als sich schließlich die alten Freunde nicht mehr blicken ließen und Werbematerialien von rechtsextremen Gruppierungen und CDs mit Neonazi-Rock im Zimmer ihres Sohnes auftauchten, war den Eltern klar, dass es sich nicht mehr nur um eine vorübergehende "Schwärmerei" für rechte Ideen handelte. Die Folge war, dass alle vermittelnden Gesprächsversuche der Eltern auf taube Ohren stießen: "Von Belehrungen wollte Max nichts hören", berichtet die Mutter weiter. "Er wurde immer aggressiver und unsere Argumente bezeichnete er als Lüge. Für unsere ganze Familie war diese Zeit die Hölle. Irgendwann erreichten wir unser Kind nicht mehr." Doch am schlimmsten empfanden die Eltern ihre Schuldgefühle, die Scham und ihre Hilflosigkeit gegenüber der Situation.

Liberale Erziehung als Mittel gegen rechtsextreme Gesinnung

Doch wie können Eltern schon im Vorfeld vermeiden, dass ihr Kind mit rechtem Gedankengut liebäugelt? "Eine liberale Erziehung halte ich da für sehr wichtig", erläutert Sozialpädagogin Eva Prausner. "Mütter und Väter sollten Demokratie und Toleranz vorleben. Die Jugendlichen sollten lernen zu diskutieren und eine positive Streitkultur zu pflegen - auf Augenhöhe mit dem Gegenüber. Entscheidend ist, den Kindern früh das Gefühl zu vermitteln, mitbestimmen und mitgestalten zu können. Dabei spielt natürlich auch das weitere Umfeld wie etwa Schule oder Sportverein eine Rolle."

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