Keine Empfehlung fürs Gymnasium Marianne und ihr Sohn Paul: "Ich habe mich schuldig gefühlt"
Marianne* ist Norwegerin und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern seit Jahren in Deutschland. Sie mag ihre neue Heimat, doch mit dem hiesigen Schulsystem kann sie sich weniger anfreunden.
Das missfällt ihr am Schulsystem: Frontalunterricht, große Klassen, Leistungsdruck, die Kultur des "Sitzenbleibens" und die Trennung der Kinder in weiterführende Schulen schon nach der vierten Klasse und nicht wie in Skandinavien erst zwei Jahre später.
"Ich habe ziemlich schnell begriffen, dass die Schuluhren hier ein wenig anders ticken" erzählt Marianne. "In Norwegen ist das Lernen positiver, entspannter - mit kleinen individuellen Lerngruppen, bei denen darauf geachtet wird, dass keiner zurückbleibt, keine Selektion stattfindet."
Die Kinder fühlen sich als Versager
Doch genau damit machte Marianne Bekanntschaft, als die Grundschulzeit ihres Sohnes Paul sich dem Ende zuneigte. "Dass mein Sohn kein Superschüler war und auch noch mit seiner Legasthenie zu kämpfen hatte, war uns völlig bewusst, doch als die Lehrerin ihn nur für die Hauptschule empfahl , waren wir wirklich geschockt," erinnert sich die Norwegerin.
"Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich es nicht geschafft hatte, Paul auf Linie zu bringen. Irgendwie nagte der Gedanke an mir, dass mein Sohn nicht so viel wert wie andere sei."
Diese Gefühle spiegelten sich verständlicherweise auch in Paul wieder. "Er war ziemlich niedergeschlagen", berichtet Marianne. "Er hat sich als Versager gefühlt und dachte, 'Ich bin nicht so toll wie die anderen'. Das hat ihn schon mächtig zu schaffen gemacht."
Alternative: Privatschule
Doch bei der ursprünglichen Empfehlung der Lehrerin blieb es nicht. Da Marianne mit ihrer Familie in Hessen lebt, hatten sie und ihr Mann bei der Empfehlung das letzte Wort und planten für Paul einen Wechsel auf eine Privatschule, wo auch die gymnasiale Laufbahn möglich war.
Von da an lief alles anders und besser. Auf der neuen Schule gab es eine Orientierungsstufe, die Klassen waren kleiner, die Förderung intensiv und das stigmatisierende Sitzenbleiben war tabu. " Nach der Orientierungsstufe bekam Paul sogar die Chance auf der gymnasialen Schiene weiter zu machen.
"Ich war sehr positiv überrascht", erzählt Marianne stolz. "Die Lehrer attestierten meinem Sohn ausdrücklich, dass er was drauf habe." Heute ist Paul sogar auf dem G-8-Zweig und sehr zufrieden mit sich und seiner Schule. "Wenn wir nicht die finanziellen Möglichkeiten für diesen Plan B gehabt hätten, wäre wahrscheinlich vieles schlechter für Paul gelaufen", bemerkt seine Mutter nachdenklich.
Der Übertritt auf weiterführende Schulen kommt zu früh
Doch das System der Empfehlungen für weiterführende Schulen will sie dennoch nicht ganz in Grund und Boden verdammen: "Eigentlich finde ich die Idee gar nicht so schlecht. Das Ganze wird nur viel zu früh umgesetzt und dann wird leider nur nach dem Leistungsstand geschaut, der dann undifferenziert und unkommentiert als schlichte Note erscheint", kritisiert Marianne.
"Bei einer richtigen Empfehlung müssten auch andere Qualitäten wie etwa soziale Kompetenzen eine Rolle spielen. Außerdem kann man bei Zehnjährigen noch nicht endgültig beurteilen, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Das wissen sie ja selber nicht und sind noch viel zu sehr in der Suchen-und-Finden-Phase", so die Norwegerin.
Als besonders nachteilig empfindet Marianne diesen frühen Schulwechsel vor allem für Jungs, denn sie hinkten in diesem Alter in ihrer Entwicklung häufig den Mädchen noch hinterher.
"Dann kommt noch erschwerend hinzu", beklagt Pauls Mutter weiter, "dass in der Grundschule durch die Dominanz weiblicher Lehrkräfte sowieso eher die femininen Schul-Tugenden wie Geduld, Stillsitzen, Schönschreiben oder ordentlich malen eingefordert werden."
Weniger Druck und mehr Spaß wären wünschenswert
Könnte sie das deutsche Schulsystem ändern, würde Marianne vor allem den Druck rausnehmen. "Ich finde es schade, dass hier eigentlich nur das Abitur zählt und andere Abschlüsse nur wenig wertgeschätzt werden", sagt sie.
"Das erhöht die Erwartungshaltung an die Kinder enorm. So kommt es, dass permanent über Schule und Leistung gesprochen wird. Hier wird nicht fürs Leben gelernt sondern für Noten. Da ich das Gegenteil von einer 'Tigermutter' bin, wünsche ich mir, dass die Kinder trotz Schule mehr genießen und Spaß haben können. Du hast ja nur ein Leben!"
* alle Namen sind geändert