Deutschland Stadt in Harzer Stausee aufgetaucht
Unter der Wasseroberfläche des Harzer Okerstausees bleibt die Vergangenheit in der Regel verborgen. Höchstens ein paar Hobbytaucher sind es, die in mehr als 40 Meter Tiefe dorthin gelangen, wo einst Menschen lebten. Doch seit einiger Zeit nun ist der Pegel der Okertalsperre erstmals seit Jahrzehnten wieder so weit gefallen, dass die Reste des 1954 überfluteten Dorfes Schulenberg teilweise wieder über der Wasserlinie liegen. Schauen Sie sich die Stadt auch in unserer Foto-Show an.
Mauerreste aus vergangenen Tagen
Fundamente und bis zu anderthalb Meter hohe Mauerreste und asphaltierte Straßen sind deutlich zu erkennen und ziehen Schaulustige in ihren Bann. Bei den wenigen noch lebenden Bewohnern des alten Schulenbergs löst der gesunkene Pegel jedoch nicht unbedingt nur Freude aus. "Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn man dort steht", sagt Karl Eicke. Der 72-Jährige war 17 Jahre alt, als seine Familie 1954 wegen der Flutung für die Okertalsperre den Ort verlassen musste. Wenn man jetzt die Ruinen aus dem Wasser ragen sieht, werde einem schon bewusst, "dass man die Heimat verloren hat", sagt er. Das alte Tal habe ganz anders ausgesehen als der heutige künstliche Zustand.
Fast wie in den Alpen
Es sei sehr schön gewesen, ein bisschen wie in den Alpen. "Es hatte seine Reize", erinnert sich Eicke. Nur einmal sei das Wasser so weit zurückgegangen, 1959/60 sei das gewesen, sagt Eicke. Wenn es noch weiter sinke, "wird auch mein Elternhaus wieder auftauchen". Die Keller müssten noch da sein, glaubt Eicke, der gerne noch einmal an den Ort seiner Kindheit zurückkehren würde. Auch der 77 Jahre alten Gerhard Böhm, der als 18-Jähriger das alte Schulenberg verlassen musste, empfindet den Anblick der freigelegten Ruinen als schmerzlich. "Wir sind auch Vertriebene, von unten nach oben", beschreibt er den unfreiwilligen Umzug in das neue Schulenberg oberhalb der Wasserlinie. Böhm sagt das mit Blick auf seine Frau die zum Kriegsende aus Breslau fliehen musste.
Es war dort immer dunkel
Er gehe oft mit seinem Schäferhund am Ufer des Stausees spazieren. "Wenn abends der Mond über das Wasser scheint, dann kommt die Erinnerung wieder hoch", sagt Böhm und fügt hinzu: "Unsere Vergangenheit liegt unter Wasser." Allerdings müsse er auch sagen, dass sich die Lebensqualität "oben" verbessert habe. "Wir waren im alten Ort tief unten im Tal, da war es immer dunkel, es gab kein Licht." Die Überreste seines Elternhauses will er auf jeden Fall besuchen, wenn das Wasser weiter fällt. "Ich kenne mich unten besser aus als oben", sagt Böhm.
Fällt der Pegel noch weiter?
Die derzeitige Situation sei in der Tat außergewöhnlich, erklärt Andreas Lange, Abteilungsleiter für Wasserwirtschaft und Gewässerschutz bei den Harzwasserwerken. Das Wasser sei tatsächlich seit 1959/60 nicht mehr so weit zurückgegangen. Lange nennt zwei Gründe für die jetzige Situation: Die Schneeschmelze habe nicht so lange wie früher gedauert. Zudem habe ab Februar in der Region eine kontinuierliche Trockenheit geherrscht. Dass der Pegel noch weiter fällt, glaubt Lange aber nicht. Jetzt sei Regen angesagt, sagt er. Dadurch werde der Pegel steigen. Die Vergangenheit der Bewohner des alten Schulenbergs wird wieder im Wasser verschwinden.