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Nachtzüge: So könnte die Bahn Auto und Flieger ausstechen


Reisen im Schlaf
So sollen die Nachtzüge Europa zurückerobern

t-online, WWF Redaktion

13.07.2022Lesedauer: 5 Min.
Venedigs Bahnhof Santa Lucia: Wer hier ankommt, kann gleich ins Wassertaxi steigen. Kein teurer oder weiter Flughafentransfer nötig.Vergrößern des Bildes
Venedigs Bahnhof Santa Lucia: Wer hier ankommt, kann gleich ins Wassertaxi steigen. Kein teurer oder weiter Flughafentransfer nötig. (Quelle: Zoonar/imago-images-bilder)

Die Bahn könnte eine echte Alternative zu Auto und Flieger sein. Wie die Langstrecke im Zug bald attraktiver werden soll.

Verliebt oder nicht: Venedig ist immer eine Reise wert. Gerade jetzt, wo dort das Anlegeverbot für gigantische Kreuzfahrtschiffe leerere Straßen verspricht. Viele Besucher der Lagunenstadt verlassen sich für die Anreise aber immer noch auf ein anderes klimaschädliches Verkehrsmittel.

Wie kann Deutschland die Energie- und Klimakrise überwinden? Dieser Artikel ist Teil der Kampagne WWF Zukunft, in der t-online und der WWF Deutschland die Möglichkeiten einer vollständig geglückten Energiewende ausleuchten.

Nach dem Anfangsschock der Pandemie hat die Zahl der Flugreisen wieder angezogen: Die Luftverkehrskontrolleure von Eurocontrol gehen davon aus, dass das Flugaufkommen in diesem Jahr fast wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht. Dabei gibt es beispielsweise für die Reise nach Venedig eine attraktive Alternative – zumindest, wenn man im Alpenvorland wohnt.

Wer nachts am Hauptbahnhof München startet, kann um 8:34 Uhr direkt im Zentrum von Venedig aussteigen – Kunst und Kultur sofort, statt Check-in, Warteschlangen und schlechtes Essen im Flieger. Doch die gute Verbindung zwischen München und Venedig ist eine Ausnahme.

Weniger Strecken, weniger Züge

In den vergangenen 70 Jahren hat die Deutsche Bahn 15.000 Streckenkilometer abgebaut und ihre Züge aus der Fläche herausgezogen. Allein seit 2007 ist das Bahnnetz um mehr als 570 Kilometer geschrumpft, eine Entfernung etwa wie von Berlin bis München. Auch bei der Zugflotte sieht es nicht gut aus.

Im Jahr 2016 stellte die Bahn ihre Nachtzuglinien komplett ein. Und das trotz steigender Passagierzahlen. Seitdem fahren die Nightjets der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) mit ihren Schlafwagen auch in Deutschland. Der Trend in Europa folgte bisher allerdings eher dem deutschen Beispiel: Europaweit ging die Zahl der Nachtzüge seit 2001 um knapp zwei Drittel zurück.

Zu schön, um nicht wahr zu werden: Der WWF entwirft mit seiner neuen Kampagne "WWF Zukunft" die Vision einer voll gelungenen Energiewende. Was wird sich ändern, wenn wir Strom und Wärme nur noch aus erneuerbaren Quellen beziehen, die Verkehrswende gelingt und die Wirtschaft klimafreundlich arbeitet? Und vor allem: Wie verändert sich mein eigenes Leben? Sinkende Strompreise, neue Jobs und mehr Solidarität sind möglich, wenn wir heute schon für die Zukunft anpacken. Mehr unter zukunft.wwf.de

Angesichts dieser Entwicklung erscheint es als wenig überraschend, dass der Verkehrssektor als einziger Bereich seit 1990 keine nennenswerten Emissionsminderungen vorzeigen kann. Doch bis 2030 müssen auch hier mehr als 40 Prozent der Treibhausgase eingespart werden, so will es das novellierte Klimaschutzgesetz.

Dass die Menschen durchaus bereit wären, auf die Bahn umzusteigen, zeigt gegenwärtig besonders das 9-Euro-Ticket: Allein im ersten Monat wurden bereits mehr als 21 Millionen der vergünstigten Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr in ganz Deutschland verkauft.

Das Potenzial ist also da: Mit vernünftigen Preisen, einem grenzüberschreitenden Buchungssystem und komfortablen Schlafgelegenheiten könnten Langstrecken- und Nachtzüge den Billigfliegern und auch den Autos in Zukunft die Show stehlen. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.

Kein Angebot trotz Nachfrage

"Bahnfahren in Europa funktioniert – wenn man weiß, wo und wie man nach Tickets suchen muss", sagt die Bundesvorsitzende des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), Kerstin Haarmann. Denn es gibt kein einheitliches Buchungsportal. Für eine Reise von Stuttgart nach Barcelona braucht man Tickets von drei verschiedenen Eisenbahngesellschaften. So stellt auch der Bahntest des VCD fest: "Die Ticketbuchung für internationale Verbindungen (kann) eine nervenaufreibende Angelegenheit sein".

Damit sich der Zug für Reisen ins europäische Ausland zu einer echten Alternative zum klimaschädlichen Fliegen entwickelt, müssen zudem die Kosten sinken. Laut einer repräsentativen YouGov-Umfrage von 2021 sprachen sich 73 Prozent der Befragten in Deutschland, Polen, Frankreich, Spanien und den Niederlanden dafür aus, dass der Zug günstiger sein sollte als das Flugzeug. Bisher ist es andersherum.

Flugreisen zu Taxipreisen

"Ein Mallorca-Flug müsste 400 Euro kosten", forderte Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro-Bahn, erst kürzlich in einem Interview von "Business Insider". Dank steuerfreiem Kerosin und dem Wegfall der Mehrwertsteuer bei internationalen Flugreisen ist der Flieger in den meisten Fällen aber unschlagbar günstig. Die geplante Kerosinsteuer der EU hängt noch in der Schwebe; viele Reisende haben sich ans Fliegen zu Taxipreisen gewöhnt.

Da kann die Bahn nicht mithalten. Denn sie muss für jede Zugfahrt laut EU-Vorgabe auch noch Trassenpreise erheben – eine Art Schienenmaut. Die Zugbetreiber zahlen so für jeden gefahrenen Kilometer Gebühren an die Inhaber der Schieneninfrastruktur. Dadurch steigen die Ticketpreise. Auch intern sind die Nachtzug-Netze vielen Bahnunternehmen zu teuer.

Vorteile des Zugfahrens
- Mehr Möglichkeiten:
z.B. arbeiten, lesen, essen oder schlafen
- Ankunft im Stadtzentrum: keine Parkgebühren oder kein langwieriger und teurer Transfer vom Flughafen
- Urlaubszeit sparen: Der volle Ankunftstag kann am Ziel genutzt werden, statt mit Sicherheitschecks und Gepäckaufgabe zu vergehen.
- Zwischenstopps: Städte auf der Route können mit kostenlosen Zwischenhalten besichtigt werden – bis zu 24 Stunden ohne Aufpreis.
- Erreichbarkeit und Unterhaltung: Gratis-Internet im Zug statt offline über den Wolken
- CO2-Ersparnis: Auf der Strecke Stuttgart-Barcelona fällt pro Kopf im Zug nur rund ein Zehntel der Emissionen einer entsprechenden Flugreise an.

Der Politikberater Jon Worth erklärte in einem Interview mit "Investigate Europe" zur Verbindung Paris-Barcelona der staatlichen französischen Eisenbahngesellschaft SNCF: "Würde es nachts und tagsüber einen Zug geben, wäre auf dieser Strecke der Marktanteil der Schiene höher, aber SNCF würde weniger Geld verdienen, weil die Kosten für den Nachtzugbetrieb höher wären. Das heißt: SNCF hat die Verbindung allein aus Geschäftsgründen eingestellt." Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung, denn der Druck steigt.

13 Metropolen sollen bis 2024 neu verbunden sein

Durch die Klimakrise, erste Versprechen aus der Politik und zunehmend lautere Forderungen aus der Bevölkerung kommen die Bahngesellschaften in Europa unter Zugzwang. So verkündeten die größten Zugbetreiber aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz am Rande einer Verkehrsministerkonferenz Ende 2021 einen vielversprechenden Aktionsplan.

Bis Ende 2024 wollen sie weitere Nachtzugverbindungen in Betrieb nehmen, um schließlich 13 Großstädte in Europa mit Nachtzügen zu verbinden. Eine Managerin kann dann im Schlaf von München nach Mailand, von Hamburg nach Wien oder von Berlin nach Brüssel reisen und am nächsten Morgen direkt zum Meeting.

Mit einem Wisch zum günstigsten Ticket

Damit bei internationalen Zugreisen nicht bereits der Buchungsprozess abschreckt, will die EU-Kommission auch hier die Zusammenarbeit der einzelnen Bahngesellschaften verbessern. "Es muss für die Fahrgäste genauso einfach und bequem sein, Bahnfahrkarten zu vergleichen und zu kaufen, wie es bei anderen Verkehrsträgern der Fall ist, und zwar in einer einzigen Transaktion", heißt es aus Brüssel.

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Wie einfach ein Ticketsystem für den Zugverkehr funktionieren kann, zeigt das Schweizer Start-up Fairtiq. Deren App muss zu Fahrtbeginn nur aktiviert werden. Über GPS ermittelt die App den Abfahrtsort und berechnet im Anschluss den günstigsten Preis auf der Strecke zum gewünschten Zielort. Außer in der Schweiz funktioniert die App auch in 14 Regionen Deutschlands, darunter in ganz Nordrhein-Westfalen sowie in Göttingen und in Freiburg.

Buchungsplattformen für internationale Zugtickets:
Leider lassen sich dort nicht immer alle Vergünstigungen buchen.
Trainline.com
: Reisen durch 45 Länder lassen sich hier mit dem Zug oder Bus buchen. Allerdings zeigt das Portal gerade Nachtzüge häufig nicht an.
Loco2.com: Ein nutzerfreundliches Portal des französischen SNCF, das ursprünglich von überzeugten Bahnreisenden gegründet wurde.
bookasleeper.com: Diese Plattform ist auf Nachtzüge spezialisiert. Zur Buchung leitet sie zur Website des jeweiligen Bahnunternehmens weiter.

Mehr Komfort, Privatsphäre und Service

Neben dem Buchungsvorgang wird in Zukunft vor allem auch die Fahrt selbst komfortabler. In Frankreich arbeitet das Start-up Midnight Trains an einer neuen Generation von Nachtzügen, die das Fahrterlebnis revolutionieren soll.

Die beiden Gründer, Adrien Aumont und Romain Payet, möchten ein "Hotel auf Schienen" schaffen. Ihre Wagen sollen neben privaten Schlafabteilen eine elegante Bordbar und kleine Konferenzräume bieten. Geschäftsreisende könnten ihr Ziel so nicht nur über Nacht erreichen, sondern die übrige Zeit auch produktiv nutzen.

Ganz an den Luxus des legendären Orient-Expresses werden die Midnight Trains wohl nicht herankommen. Aber mit eigenem Unterhaltungsprogramm, Craft-Bier und ausgesuchten Weinen an der Bar heben sich die Pläne des Start-ups merklich vom Status quo auf der Schiene ab. Ihren Plan für die Nachtzüge der Zukunft beschreiben die beiden Unternehmer als eine Kombination aus moderner Nachhaltigkeit und dem Charme der 1920er Jahre.

Eine schöne Idee – nur für vermögende Gäste?

"Wenn die Leute wirklich aufhören sollen zu fliegen, müssen wir auch beim Preis in den Wettbewerb mit den Fluglinien gehen", sagt Gründer Payet. Ab 2024 sollen die Nachtzüge seiner Firma von Paris aus zehn Großstädte in Europa anfahren – darunter Hamburg und Berlin.

Auch die neuen Nightjets des ÖBB sollen Mini-Suiten für Alleinreisende, Duschmöglichkeiten und zusätzlichen Komfort in den Schlafabteilen bieten. Wer zukünftig mit dem Zug durch die Nacht gleiten will, muss sich dann nicht mehr mit besseren Pritschen begnügen. Das kommende Jahrzehnt kann die Renaissance der Nachtzüge einläuten – für mehr Klimaschutz, entspannteres Reisen und ausgeschlafene Morgende. Sofern die Politik die Weichen stellt.

Was, wenn alles gut wird? Mit Geschichten wie dieser möchte der WWF Deutschland lebensnahe Lösungen aufzeigen, wie die Energiewende der Zukunft die Krisen der Gegenwart überwinden könnte.

Dieser Artikel ist im Rahmen einer redaktionellen Kooperation mit dem WWF Deutschland entstanden.

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