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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Artenvielfalt weltweit Das sechste Massenaussterben hat längst begonnen
Mit dem Slogan "Rettet die Wale!" erreichte in den 1980er Jahren zum ersten Mal das Thema Artenschutz eine breite Öffentlichkeit. Doch längst sind nicht mehr nur die Meeressäuger vom Aussterben bedroht.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gab es offiziell keine ausgestorbenen Tierarten. Die Menschen hatten schlicht keine Vorstellung davon, dass es vor langer Zeit Lebewesen gegeben hatte, die nun nicht mehr auf der Erde wandelten. Zwar lagen in den Glasschränken von Universitäten und privaten Sammlern unzählige fossile Überreste vergangener Spezies. Doch dachten Gelehrte und Hobbyforscher nicht an Ammoniten oder Dinosaurier – es handelte sich vielmehr um Kuriositäten – abnorme Variationen existenter Tiere oder die Knochen und Zähne von Arten, die irgendwo versteckt auf dem Planeten – in den Untiefen der Meere oder den noch nicht erforschten Dschungeln Afrika, Asiens und der neuen Welt – sich bester Gesundheit erfreuten.
Doch dann trat ein junger französischer Naturforscher auf den Plan. Georges Cuvier postulierte nicht nur, dass es sich bei dem Afrikanischen und dem Asiatischen Elefanten um zwei unterschiedliche Arten handelte – er erklärte seinen Zeitgenossen zudem, dass es noch zwei andere Elefanten gegeben hätte: das Mammut und das "Ohio-Tier" – das Mastodon. Beide Arten waren verschwunden. Bald gesellte sich anhand von Knochenfunden auch das Riesenfaultier in die neue Menagerie ausgestorbener Tiere. Cuvier verglich Zähne, Knochen und fossile Abdrücke und erweiterte nach und nach den Bestand an verlorenen Arten.
Zugleich formulierte er eine Theorie, wie es zu dem Verschwinden gekommen war – durch Naturkatastrophen, die jeweils einen Großteil der vorhandenen Arten auslöschten und dadurch Raum für neue Arten gaben. Mehrere Jahrzehnte bevor Charles Darwin und Alfred Russel Wallace ihre Evolutionstheorien entwickelten, hatte Cuvier das Massenaussterben entdeckt.
Fünf Massenaussterben – und nun das sechste
Fünf große Massenaussterben gab es in der Erdgeschichte – und mehrere "kleinere". Am bekanntesten ist wohl das Ende der Dinosaurier vor circa 66 Millionen Jahren. Jeweils 75 Prozent oder mehr der vorhandenen Arten verschwanden. Die Ursachen reichen von Vulkanismus über die Kontinentaldrift bis hin zu – wahrscheinlich – einem Meteoriteneinschlag. Nun stehen wir am Anfang des sechsten Massenaussterbens – doch diesmal ist keine Naturkatastrophe Auslöser für den dramatischen Artenschwund, sondern der Mensch.
Laut der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation (IUCN) sind derzeit rund 31.000 Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Das betrifft unter anderem ein Viertel der Säugetierarten, 14 Prozent der Vogelarten und vier von zehn Amphibienarten. Der Schwund findet dabei nicht nur in Gebieten mit sehr hoher Artenvielfalt statt.
"Deutschland mag nicht so einen Artenreichtum haben, wie Brasilien oder andere tropische Länder– aber die Tier- und Pflanzenwelt hierzulande ist alles andere als eintönig", erklärt Prof. Dr. Diana Pretzell, Leiterin Biodiversität beim WWF, im Gespräch mit t-online.de. "Es gibt vielfältige Lebensräume – Wälder, Moore, Wiesen, Seen und Meere, um nur einige zu nennen. Und es werden wieder neue Arten entdeckt. Aber – diese Vielfalt nimmt ab." Innerhalb von 27 Jahren sei beispielsweise die Biomasse fliegender Insekten um mehr als 75 Prozent zurückgegangen. Auch der aktuelle Bericht zur Lage der Natur zeigt, dass viele Tier- und Pflanzenarten unter Druck geraten sind. "Nur 30 Prozent der Lebensräume in Deutschland befinden sich noch in einem guten Zustand. Bei den Arten ist die Lage sogar noch schlechter, nur ein Viertel wird derzeit als gut eingestuft."
Bei den Pflanzen sind vor allem jene Arten betroffen, die sich in kühleren Regionen wohlfühlen. Zwar sind sie in der Lage zu wandern – jedoch nicht immer so schnell, wie die durchschnittlichen Temperaturen infolge der Erderhitzung steigen. Und das hat wiederum Einfluss auf die Tierwelt.
"Ein Beispiel ist der Wiesenknopf, der sich auf feuchten Wiesen und Mooren wohlfühlt. Diese verschwinden nach und nach. So verschwindet auch der Wiesenknopf in vielen Regionen und mit ihm der Wiesenknopf-Ameisenbläuling, ein Schmetterling, der sich auf diese eine Pflanze spezialisiert hat. Das ist natürlich kein rein deutsches oder europäisches Phänomen", erläutert Pretzell. "Wenn wir nach Australien schauen, dann haben wir den Eukalyptus, der den Koalas als Hauptnahrungsquelle dient. Doch viele Eukalyptuswälder wurden in den letzten Jahrzehnten abgeholzt oder verschwanden durch die zunehmende Trockenheit. Jetzt gab es die verheerenden Buschbrände und viele der Koalas, die das überlebt haben, werden nur noch schwer Nahrung finden."
Pestizide und Monokulturen
Der Bericht nennt die Landwirtschaft als einen Hauptfaktor für den Rückgang von Artenvielfalt in Deutschland. Zwar ist die landwirtschaftlich genutzte Fläche in Deutschland in den letzten Jahrzehnten nicht angestiegen, doch werden mehr Pestizide eingesetzt. Darüber hinaus hat sich auch die Art der landwirtschaftlichen Nutzung im Laufe der Zeit geändert. So wurde vielerorts die Beweidung von Magerrasen aufgegeben, während an anderen Stellen Monokulturen kaum Nahrung und Lebensraum für Tiere bieten.
Doch Landwirtschaft kann und wird heimische Tier- und Pflanzenarten auch erhalten. In einem Modellprojekt testet der WWF in mehreren Biosphärenreservaten unterschiedliche Formen der insektenfreundlichen Flächenbewirtschaftung. Gefördert vom Bundesumweltministerium und in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde, dem Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung und den Nationalen Naturlandschaften werden sechs Jahre lang unterschiedliche Maßnahmen erprobt: vom insektenschonenden Maschineneinsatz bis zur Nutzung von Brach- und Blühstreifen. Pretzell, in deren Verantwortungsbereich das Projekt liegt, hofft dabei, "dass Insektenschutz als Gemeinschaftsleistung bald über alle Bewirtschaftungsformen hinweg umsetzbar und durch staatliche Förderung unterstützt wird. Schließlich sind wir alle auf Insekten, z.B. als Bestäuber, angewiesen."
Solche Projekte allein werden dem Artenschwund allerdings kaum etwas entgegensetzen können. Auf der politischen Ebene geschieht zwar schon viel, jedoch noch zu wenig – und längst werden nicht alle Versprechen eingelöst. So hat das Bundeskabinett im September 2019 ein "Aktionsprogramm Insektenschutz" verabschiedet – die dazugehörige Gesetzesvorlage zur Umsetzung für ein Insektenschutzprogramm hat das Bundeslandwirtschaftsministerium noch immer nicht vorgelegt. Auch angesichts möglicher Konjunkturpakete im Rahmen der Corona-Krise mahnt Pretzell, den Artenschutz nicht zu vergessen. "Entsprechende wirtschaftliche Hilfen müssen an Bedingungen zum Schutz der Biodiversität geknüpft werden. Wir brauchen eine gesunde Natur, um ein gesundes Umfeld für Menschen zu gewährleisten. Das sollte uns gerade jetzt noch eindringlicher bewusst werden. 1 Prozent des Konjunkturpaketes sollte uns das wert sein." Wichtig sind auch die Förderung von klimafreundlichen und nachhaltigen Technologien.
Klimakrise treibt Artenschwund weiter voran
Die Klimakrise wird den Artenrückgang sowohl in Europa als auch weltweit beschleunigen. Tier- und Pflanzenarten, die ohnehin bereits durch Entwaldung, Entwässerung und Umweltverschmutzung bedroht sind, geraten durch die veränderten Klimabedingungen weiter unter Druck. So können sich auch Krankheiten stärker ausbreiten. Vor allem in Mittel- und Südamerika gibt es ein regelrechtes Amphibiensterben und viele Arten stehen bereits kurz vor dem Aussterben oder sind in der freien Wildbahn gar nicht mehr aufzufinden.
Der Zoologe Lancelot Hogben entdeckte in den 1920er Jahren, dass sich der südafrikanische Krallenfrosch als natürlicher Schwangerschaftstest nutzen lässt. Spritzt man dem Tier den Urin einer schwangeren Frau, so laicht er innerhalb weniger Stunden. Bisherige Schwangerschaftstests, etwa mit Mäusen oder Kaninchen, benötigten mehrere Tage für ein Ergebnis. In Südafrika war der Frosch bald rar.
Forscher gehen davon aus, dass die Aussterberate bei Fröschen und Lurchen in den nächsten 50 Jahren bis zu 45.000-fach höher liegen wird, als das normal der Fall ist. In diesem halben Jahrhundert könnte ein Drittel aller Amphibienarten aussterben. Auch in Europa sind Amphibien wie der Feuersalamander bedroht. Hier vernichtet Bsal, ein Verwandter des Chytridpilzes, ganze Populationen. In den Niederlanden ist die Anzahl der Feuersalamander bereits um 96 Prozent zurückgegangen, dort ist er nun vom Aussterben bedroht. In Deutschland wurde in diesem Jahr ein Ausbruch der Krankheit festgestellt.
Amphibien reagieren besonders empfindlich auf Umweltveränderungen und sind daher bereits jetzt im Vergleich zu anderen Tierklassen stärker betroffen. Jedoch wird sich das Artensterben auch bei diesen weiter beschleunigen, wenn sich nichts ändert.
Mittlerweile beträgt die Aussterberate auf alle Tier- und Pflanzenarten bezogen laut Schätzungen von Forschern mehr als das 1.000-Fache des Normalen. In einigen Generationen könnten drei Viertel aller Wirbeltierarten ausgestorben sein. Mit einem Umdenken bei Klimaschutz, Landwirtschaft, Verkehr und Industrie könnte der Mensch jedoch zumindest einige dieser Arten retten.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Prof. Dr. Diane Pretzell
- IUCN
- Bundesumweltministerium
- WWF
- Elizabeth Kolbert – The sixth extinction: an unnatural history
- Amphibian Decline or Extinction? Current Declines Dwarf Background Extinction Rate (PDF)
- Accelerated modern human–induced species losses: Entering the sixth mass extinction