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Kaiserschnitt: Anpassungsstörungen bei Babys


Erst die Wehen, dann der Schnitt
Kaiserschnitt-Babys haben oft Anpassungsstörungen

t-online, Simone Blaß

09.09.2016Lesedauer: 4 Min.
Kaiserschnitt: Der "Sturm der Geburt" ist eine wichtige und stärkende Erfahrung, die Kaiserschnittkindern fehlt.Vergrößern des Bildes
Der "Sturm der Geburt" ist eine wichtige und stärkende Erfahrung, die Kaiserschnittkindern fehlt. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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In Deutschland wird jedes dritte Kind per

Der Kaiserschnitt hat schon viele Leben gerettet. Keine Frage. Wenn Gefahr für Mutter oder Kind droht, darf man nicht zögern. Aber die hohe Zahl an Kaiserschnitten, die heutzutage durchgeführt wird, ist nicht notwendig. Mindestens ein Drittel dieser Kinder, so schätzt Frank Louwen, Leiter der Geburtshilfe am Klinikum Frankfurt, könnte gesund und ohne Komplikationen auf normalem Weg das Licht der Welt erblicken.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hält eine Kaiserschnittrate von nur zehn bis 15 Prozent für medizinisch notwendig. In vielen Fällen ist es jedoch eine reine Abwägungsfrage, zum Beispiel bei einer Geburt nach einem vorhergehenden Kaiserschnitt.

Sturm der Geburt macht Mutter und Kind stark fürs Leben

Warum also sollten sich Schwangere einer Operation - und nichts anderes ist ein Kaiserschnitt - unterziehen, wenn sie ihr Baby auf natürlichem Weg auf die Welt bringen könnten? "Eine Frau, die den Sturm der Geburt gemeistert hat, hat ein Wissen um ihre Kraft, die sie durch alle anderen schwierigen Lebenssituationen tragen kann. Für das Kind gilt das Gleiche", meint Wolf Lütje, Präsident der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Er beanstandet, dass eine Geburt in unserer Kultur nur noch als etwas Gefährliches wahrgenommen wird.

Der Hauptgrund für einen Wunschkaiserschnitt ist Angst. Angst vor dem Schmerz, dem Loslassen, der Naturgewalt. Und Angst vor Komplikationen haben nicht nur Eltern, sondern auch auf Geburtshelfer. "Das ist eine Frage der Erfahrung, der Schulung, aber auch der Zentralisierung", sagt Louwen im Gespräch mit t-online. Vielen Ärzten mangelt es inzwischen an Erfahrung mit komplizierteren Geburten. Sie fürchten Schadenersatzforderungen und möchten auf Nummer sicher gehen.

Ein Kaiserschnitt ist wie ein "Überfall"

Ein Kaiserschnitt ist gut planbar und schnell vorbei. Das ist von einer natürlichen Geburt nicht zu erwarten. Es kann eine Weile dauern, bis ein Kind das Licht der Welt erblickt. Und das hat seinen Sinn. Es braucht Zeit, um anzukommen. "Die Situation im OP ist grundsätzlich eine ganz andere als die im Gebärzimmer", bestätigt Harald Abele, leitender Oberarzt am Perinatalzentrum in Tübingen. "Die Autonomie der Gebärenden wird nahezu ausgeschaltet." Man nimmt also Mutter und Kind wichtige Momente. "Natürlich ist es sehr schwierig, das Verhalten von Neugeborenen zu bewerten. Aber sehr gut beobachten kann man zum Beispiel deren Reaktion auf das OP-Licht. Die Anpassung an die Umgebung ist definitiv eine andere."

Wolf Lütje wird deutlicher: "Stellen Sie sich vor, Sie schlafen friedlich in Ihrem Bett. Plötzlich wird Ihnen mitten in der Nacht die Bettdecke weggezogen, grelles Licht blendet Ihre Augen und Sie werden aus dem Fenster des ersten Stocks in ein Schwimmbecken geworfen, in dem das Wasser gerade mal 14 Grad Celsius hat. Sie werden es überleben, sicher. Aber anzunehmen, dass solch ein Überfall ohne Folgen bleibt, ist sicherlich naiv. Die meisten reifen Kinder, die auf die Kinderstation verlegt werden müssen, sind anpassungsgestörte Kaiserschnittkinder."

Kaiserschnitt am besten nach Eintritt der Wehen

Wenn schon Wunschkaiserschnitt, dann sollte dieser möglichst nah am errechneten Geburtstermin sein. Dabei zählt jeder Tag. Eine englische Studie zu Wunschkaiserschnitten zeigt, dass die Häufigkeit schwerwiegender Komplikationen mit jeder Woche abnimmt. Sind es in der 37. Schwangerschaftswoche noch 15,3 Prozent, so sind es in der 39. Woche nur noch acht Prozent. "Die richtige Zeit für einen Kaiserschnitt ist nach Wehenbeginn", sagt Lütje. Der Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Amalie Sieveking-Krankenhaus in Hamburg ist überzeugt, dass das in der Regel keine Nachteile für die Mutter, aber viele Vorteile fürs Kind hätte. "Wehen bereiten das Kind nicht nur körperlich auf den Wechsel vor, sondern auch psychisch."

Eine natürliche Geburt stärkt die Immunabwehr

Bei einer natürlichen Geburt entscheidet das Baby, wann es soweit ist. Hinzu kommt: Eine vaginale Geburt ist Teamwork. Mutter und Kind arbeiten eng zusammen. Bei dem nicht einfachen Weg durch den Geburtskanal wird das Herz-Kreislaufsystem angeregt, Druck auf den Brustkorb ausgeübt, das Fruchtwasser aus den Lungen gepresst und das Baby auf die Atmung vorbereitet.

Es ist davon auszugehen, dass Babys auch bei einer natürlichen Geburt enormem Stress ausgesetzt sind. Aber Mutter Natur hilft ihnen mit einem Hormoncocktail. Dieser enthält auch Endorphine, also Glückshormone, die ihm beim Bewältigen des Geburtsstresses helfen.

Bei Kaiserschnittkindern hat die Immunabwehr oft Startschwierigkeiten. Zum einen, weil sie häufig zu früh geholt werden. Zum anderen, weil beim Passieren der Scheide Bakterien auf das Kind übertragen werden, die das Immunsystem stärken. Dieser Effekt entfällt bei einem Kaiserschnitt. Möglicherweise treten deshalb später häufiger Allergien, Asthma, Neurodermitis, chronische Darmerkrankungen und Diabetes auf. Es gilt als wahrscheinlich, dass solche Autoimmunkrankheiten bei Kaiserschnittkindern durch ein verändertes Mikrobiom begünstigt werden.

Vaginal Seeding: Baby wird mit Scheidensekret eingerieben

Eine Trick soll den natürlichen Immuneffekt nachahmen: Das Baby wird nach einer Kaiserschnittgeburt mit Scheidenbakterien der Mutter eingerieben. Vaginal Seeding nennt sich die Prozedur, nach der auch in deutschen Kliniken immer häufiger gefragt wird. "Das ist ein vielversprechender Ansatz", findet Louwen. Eltern, die diese Methode für ihr Kind wünschen, werden von ihm nicht abgewiesen. Standard ist sie allerdings noch nicht. "Ob es wirklich nützt, können wir erst nach den Langzeitstudien sagen. Schädlich jedenfalls kann es nicht sein, denn sonst dürfte ja keine Frau ihr Kind normal auf die Welt bringen."

Die Münchner Osteopathin Birgit Höly stellt Anpassungsschwierigkeiten aber auch bei Babys fest, die bei einer natürlichen Geburt zur Welt kamen. "Es kommt auch auf die Schwangerschaft an. Manchmal ist es bei der Geburt sogar besser fürs Kind, einen Kaiserschnitt zu machen, statt es mit auf Teufel komm raus mit Saugglocke und ähnlichem zu gebären. Denn das ist sicherlich noch traumatischer."

Das Vertrauen in die natürliche Geburt geht verloren

Weil das emotional hoch beladene Thema Kaiserschnitt so kontrovers diskutiert wird, unterstützt das Bundesministerium für Gesundheit nun entsprechende Forschungsprojekte. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, dass ein Kaiserschnitt nur dann durchgeführt wird, wenn er medizinisch notwendig ist. Solche Erkenntnisse sind wichtig. Doch noch wichtiger ist es, Frauen die Angst vor einer natürlichen Geburt zu nehmen.

"Ich glaube, dass wir noch nie so viel informiert haben wie heute und das Ganze auch noch nie einen solchen politischen Windzug hatte. Aber die Zahlen sind ansteigend und kaum umkehrbar", bedauert Harald Abele und wünscht sich ein gesellschaftliches Umdenken: "Die natürliche Geburt muss wieder einen anderen Stellenwert bekommen."

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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