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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Sommerwelle "Wir brauchen jetzt ein Bündel von Maßnahmen"
Täglich steigen die Inzidenzen. Die Politik streitet über Maßnahmen für die Herbstwelle. Doch dann kann es viel zu spät sein, warnt ein Modellierer.
Deutschland in der ersten Sommerwelle seit Ausbruch der Pandemie: Die sehr ansteckende BA.5-Variante sorgt für ständig steigende Infektionszahlen. Durch die veränderte Teststrategie ist zudem von einer viel höheren Dunkelziffer auszugehen. Viele Bundesbürger beschleicht ein ungutes Gefühl: Schlittern wir da doch wieder in die Krise, aus der dann nur noch Lockdowns und Schulschließungen heraushelfen?
In einer Umfrage im Auftrag der "Augsburger Allgemeinen" vom vergangenen Wochenende sprach sich fast jeder Zweite für eine zügige Verschärfung der geltenden Corona-Maßnahmen aus. 49 Prozent der 5.002 repräsentativ ausgewählten Befragten waren dafür, umgehend strengere Vorschriften einzuführen, 43 Prozent waren dagegen, der Rest war unentschlossen. Bei den über 65-Jährigen waren sogar 62 Prozent dafür.
Währenddessen streitet die Politik über ein Maßnahmenpaket, das in der Herbstwelle zur Anwendung kommen soll. Ist es dann nicht schon zu spät? t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider, der die Pandemie modelliert.
t-online: Herr Schneider, wo befinden wir uns in der Pandemie?
Kristan Schneider: Das wissen wir nicht mehr. Wir monitoren es nicht mehr, wir haben keine flächendeckenden Tests.
Aber auch ohne diese Test-Infrastruktur sind die Zahlen sehr hoch ...
Ja, langsam entwickelt sich wieder ein Bewusstsein dafür. Aber letztlich muss man wohl davon ausgehen, dass diese Zahlen vor allem auf symptomatisch Infizierte zurückgehen.
Die Tests sind jetzt auch kostenpflichtig – eine richtige Entscheidung?
Nein, wir verlieren das Infektionsgeschehen komplett aus den Augen. Und wenn wir erst einen Anstieg bei der Intensivbetten-Auslastung sehen, ist es schon zu spät. Wir kommen so nie vor die Welle, sondern hinken immer hinterher.
Kristan Schneider ist Mathematikprofessor an der Hochschule Mittweida, Sachsen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Nun wurde uns zwei Jahre lang erzählt, Corona wäre ein saisonales Virus. Jetzt sehen wir eine Sommerwelle.
Ja, das Virus ist mutiert und ist so viel ansteckender, dass das nicht zu vermeiden war. Im Winter werden die Inzidenzen noch viel höher sein.
Reagiert die Politik zu spät? Es wird immer über Maßnahmen ab Herbst geredet?
Das ist definitiv zu spät. Sie müssen sich klarmachen: Hier kommen zwei Probleme zusammen. Je ansteckender und somit weiter verbreitet das Virus ist, desto eher kommt es bei den Menschen an, die wirklich gefährdet sind. Und: Je virulenter das Virus, desto häufiger fallen die Menschen aus, die zum Beispiel intensivpflichtige Patienten betreuen können.
Was bräuchten wir denn jetzt?
Ein Bündel von Maßnahmen. Als Erstes: die Rückkehr der Maskenpflicht.
Wo denn?
In allen Innenräumen, im Flugzeug, auch im Einzelhandel, auch im Supermarkt.
Es gibt bislang eine Empfehlung von Karl Lauterbach dafür.
Eine Empfehlung bringt nichts, da hält sich keiner dran. Wir brauchen da schon eine Pflicht.
Was brauchen wir jetzt akut noch?
Eine Testpflicht, gerade vor Großveranstaltungen. Damit kann man Infektionsketten kurz halten. In langen Infektionsketten kann das Virus sonst irgendwann dort ankommen, wo es wirklich Schaden anrichtet.
Wir brauchen allgemein mehr Tests?
Ja, natürlich. Tests müssen aber besser auf die Bevölkerung verteilt werden. Es bringt nichts, wenn sich einige dreimal pro Woche testen und andere nie. In den Schulen zum Beispiel sollte einmal in der Woche getestet werden. Am Arbeitsplatz auch. Mindestens.
Nun scheint aber das Konzept der Durchseuchung allgemein beschlossen zu sein. Heißt: Wir lassen es laufen und danach ist es gut. Unter BA.5 keine weitsichtige Lösung?
Durchseuchung ist immer die schlechteste Option. Und unter dieser Variante noch viel mehr. Wir wissen, dass man sich mehrmals infizieren kann und kein weitreichender Immunschutz aufgebaut wird. Wenn sich jetzt viele infizieren, nutzt uns das im Herbst womöglich gar nicht, weil der Immunschutz dann nicht mehr anhält.
Christian Drosten hat sich in der letzten Woche korrigiert: Wir erreichen im Herbst doch nicht den endemischen Zustand? Sehen Sie das auch so?
Ja, das ist richtig. Das ist mit den derzeitig verfügbaren Impfstoffen auszuschließen. Dazu bräuchte man eine sterile Immunität. Die kann man aber nur erreichen, wenn das Virus, wo es eindringt, auch sofort abgefangen wird. Das ist Schleimhaut-Immunität. Das erreichen wir mit den derzeitigen Impfstoffen nicht.
Also beschäftigt uns Corona doch noch länger?
Ja, davon ist leider auszugehen.
Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Kristan Schneider