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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte warnt Bald mehr Geimpfte als Ungeimpfte in den Krankenhäusern
Die Omikron-BA.5-Variante droht, den Sommer zu verhageln. Ein Experte erklärt die Gefahr, die von der neuen Welle ausgeht. Und er sagt, was jetzt nötig wäre.
Seit Anfang des Monats steigen die Corona-Infektionszahlen in Deutschland wieder an. Ursache ist der Omikron-Subtyp BA.5, der sich auch hierzulande rasch ausbreitet und als bislang ansteckendste Variante gilt. Klar ist: Die steigenden Inzidenzen spiegeln das wahre Infektionsgeschehen nicht wider, denn in die offizielle Statistik fließen nur bestätigte positive PCR-Tests. Aufgrund der veränderten Teststrategie ist ihre Anzahl jedoch massiv zurückgegangen. Heißt: Die Dunkelziffer der Infizierten ist viel höher.
Brauchen wir schon jetzt neue Maßnahmen zur Viruseindämmung? t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider, der die Corona-Pandemie modelliert. Er warnt vor der Gefahr BA.5 – auch für Geimpfte.
t-online: Herr Schneider, Portugal gilt als das Land, das als Erstes und besonders heftig von der BA.5-Welle betroffen ist. Was sehen wir dort? Und können wir daraus Rückschlüsse auf unsere Sommerwelle ziehen?
Kristan Schneider: Wir sehen vor allem, dass auch ohne eine stringente Teststrategie hohe Infektionszahlen doch irgendwann auffallen. In Portugal muss man davon ausgehen, dass die Welle überhaupt erst dann auffiel, als symptomatisch Erkrankte getestet wurden. Und das waren schon sehr viele. Etwas Ähnliches fällt jetzt auch in Dänemark auf. Dort wird derzeit so wenig getestet wie vor über zwei Jahren, trotzdem steigen die Zahlen.
In Portugal ist auffällig, dass die Mortalität, also die Sterblichkeitsrate, sehr schwankt. Am 14. Juni wurden 176 Todesfälle gemeldet, an anderen Tagen sind es null.
Diesen Trend, dass auf der täglichen Basis nur noch schlecht gemonitort wird, sehen wir weltweit. Aber vorauszusagen ist, dass die Mortalität steigen wird, wenn auch auf niedrigem Niveau. Allerdings: Würde man die portugiesische Sterblichkeitsrate auf Deutschland umrechnen, hätte wir etwa 300 Tote am Tag in der BA.5-Welle. Das hatten wir zuletzt im April. Die Frage ist, ob man damit leben will.
Kristan Schneider ist Mathematikprofessor an der Hochschule Mittweida, Sachsen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Das ist ein Plädoyer für die Wiedereinführung bestimmter Anti-Corona-Maßnahmen, auch jetzt im Sommer?
Ja, die Maskenpflicht in Innenräumen abzuschaffen, war ein Fehler. Und auch, dass jetzt praktisch gar nicht mehr getestet wird, etwa in der Schule oder am Arbeitsplatz, halte ich für falsch.
Aber es heißt ja: Nun, viele sind ja geimpft.
Das spielt bei BA.5 allerdings nur noch eine untergeordnete Rolle, denn diese Variante umgeht den Impfschutz weitgehend. Wir werden damit in den nächsten Wochen das Phänomen sehen, dass mehr Geimpfte als Ungeimpfte in den Krankenhäusern behandelt werden müssen.
Was meinen Sie damit? Klingt erstmal nach Schwurbler-These …
Nein, das ist eine logische Konsequenz. Die Masse der Menschen ist geimpft, doch BA.5 unterläuft diesen Schutz. Angesichts des hohen Infektionsgeschehens und der hohen Infektiosität wird das Virus dann doch wieder bei den vulnerablen Gruppen ankommen. Auch bei solchen, bei denen die Impfung nicht oder nicht vollständig gewirkt hat.
Lauterbach plädiert für die vierte Impfung für alle …
Das halte ich für vernünftig, auch wenn es dafür bislang keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission gibt. Die Impfung bietet zumindest einen vorübergehenden Schutz und kann die Welle abflachen. Das ewige Spekulieren auf angepasste Impfstoffe im Herbst und dergleichen bringt nichts, je eher, desto besser.
Nun sagen die Kritiker, für neue Maßnahmen müsste man erst wieder deutlich steigende Hospitalisierungsraten sehen …
Wenn man die sieht, ist es schon zu spät. Denn die sehen wir immer zeitverzögert. Exakt denselben Fehler hat man vor einem Jahr gemacht, als es hieß, man soll nicht so auf die Inzidenzen schauen, und dann waren plötzlich die Intensivstationen überlastet. Man muss daher präventiv handeln, das hat Deutschland in der ersten Welle zum Beispiel sehr gut gemacht.
Mit der Konsequenz, dass es hieß: Wir haben ja gar nicht so viele Tote gehabt, kann ja nicht so schlimm gewesen sein, wie es kommuniziert wurde.
Das ist das Präventionsparadox: Handelt man präventiv ausreichend, vermeidet man Kranke und Tote, wird hinterher gesagt: War doch gar nicht schlimm.
Also, Sie plädieren dafür, jetzt zu handeln und nicht erst bis Herbst zu warten.
Ja, wir sind jetzt eigentlich praktisch am Minimum der saisonalen Übertragbarkeit angelangt. Bei den Vorgängervarianten von BA.5 fielen um diese Jahreszeit noch immer die Infektionszahlen. BA.5 trotzt aber diesem saisonalen Effekt aufgrund der höheren Infektiosität.
Im August steigt dann die Übertragbarkeit wieder kontinuierlich bis Jahresende und wir werden mit entsprechend hohen Infektionszahlen konfrontiert sein. Wir sehen momentan das Infektionsgeschehen auch nicht mehr richtig, weil wir die Teststrategie und damit die Spielregeln geändert haben. Wir brauchen jetzt wieder eine einheitliche Teststrategie. Besonders dann, wenn die Reiserückkehrer wieder eine größere Rolle spielen.
Sonst machen wir die gleichen Fehler wie in den vergangenen zwei Jahren?
Ja, und was wir auch beachten müssen: Eine jetzt stattfindende Durchseuchung mit BA.5 kann uns eventuell auch gar nichts nützen, denn es ist bekannt, dass man sich mit dieser Variante erneut infizieren kann und kein anhaltender Immunschutz aufgebaut wird. Und dann wissen wir auch nicht, ob uns eine neue oder bekannte Variante im Herbst heimsucht. Die derzeitige Corona-Strategie ist verantwortungslos.
Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Kristan Schneider
- Eigene Recherche