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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Querdenken-Szene Wenn der Hass im Netz plötzlich in reale Gewalt umschlägt
Der Mord an einem 20-Jährigen in Idar-Oberstein schockiert Deutschland. Offenbar radikalisierte sich der mutmaßliche Täter auch im Netz. Experten warnen vor einer wachsenden Gefahr.
Weil er keine Maske tragen wollte und die Anti-Corona-Maßnahmen ablehnte, erschoss in Idar-Oberstein ein 49-Jähriger einen jungen Tankstellen-Kassierer. Eine brutale Tat, aber nur ein Symptom dafür, wie sich der Anti-Corona-Protest im Internet radikalisiert. Im Netz wird der Täter in einschlägigen Kreisen von radikalisierten Querdenkern und Rechtsextremen für den Mord gefeiert. Wie kann es soweit kommen?
Das Internet wird fälschlicherweise von Nutzern immer noch als rechtsfreier Raum begriffen. Die Folge: Sie lassen ihren Emotionen dort freien Lauf und schrecken auch vor Drohungen gegenüber Menschen, deren Standpunkt sie nicht teilen, nicht zurück. Zunehmend trifft dies in der Corona-Krise auch Personen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen.
Mediziner unter Polizeischutz
In Neu-Ulm musste ein Hausarzt unter Polizeischutz gestellt werden, als er Anfang Juli begann, Kinder ab zwölf Jahren gegen das Coronavirus zu impfen. Auch ein Arzt aus dem Kreis Osnabrück musste geschützt werden, nachdem er eine Impfverweigerin nicht weiter behandeln wollte. Beide Mediziner wurden mit Hasspostings und Drohungen überschwemmt. Nur zwei Beispiele – aber sie zeigen die Spitze des Eisberges in der überhitzten Diskussion, und auch wie schnell der Hass aus dem Internet in die Realität schwappen kann.
Was passiert in den oft unkontrollierten Weiten des Internets? Und wie konnte es in der Corona-Krise zu einer solchen Hasswelle kommen? t-online hat Josephine Ballon gefragt. Sie ist Rechtsanwältin bei HateAid, die Betroffene von Drohungen und Einschüchterungen berät.
t-online: Frau Ballon, was haben wir am Sonnabend in Idar-Oberstein gesehen? Der Täter hat sich offenbar im Internet radikalisiert …
Josephine Ballon: Dass so etwas passieren kann, haben wir auch bei dem Anschlag auf Walter Lübcke, bei den Anschlägen in Hanau oder Halle gesehen: Gewalttätige Sprache kann in Gewalt in der Realität umschlagen. Es ist nicht so, dass alle Menschen, die diese Hass-Posts lesen, solche Dinge auch in die Tat umsetzen. Aber wir wissen eben nicht, wer das liest. Wie viele gewaltbereite Gefährder wir in der Szene der Coronaleugner haben, kann letztlich nur der Verfassungsschutz beantworten.
Welche Rolle spielt das Medium Telegram, über das der Täter offenbar seine Informationen bezog und in dem er sich radikalisierte?
Telegram ist im Grunde ein Dienst, der sich jeglichen Zugriffs entzieht. Dieser Messenger-Dienst sitzt in Dubai und Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das von der Bundesregierung verabschiedet wurde, kann hier nicht durchgesetzt werden. In diesem Gesetz soll gegen Hass-Sprache und Straftatbestände wie zum Beispiel Volksverhetzung durchgegriffen werden. Telegram hält sich hieran jedoch nicht. Letztlich ist dieser Dienst nicht zu erreichen oder zu sanktionieren.
Josephine Ballon ist Rechtsanwältin und berät bei HateAid Betroffene von digitaler Gewalt.
Was sehen Sie in diesem Zusammenhang in der Corona-Krise?
Seit Beginn der Pandemie überschlagen sich bei uns die Beratungsanfragen – in 2021 war das schon ein Anstieg von fast 300 Prozent. Schon seit 2015 mit dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise sehen wir, dass digitale Gewalt strategisch genutzt wird, um Menschen mundtot zu machen. In der Corona-Krise wird versucht, Wissenschaftler und Experten, die die Realität wiedergeben, die wiederum Teile der Bevölkerung nicht sehen wollen oder leugnen, unter Druck zu setzen. Das führt zu einer Flut von Hassmails oder Hasspostings.
Wie erklären Sie sich, dass das in dieser Krise so eskaliert?
Anders als die sogenannte Flüchtlingskrise betrifft Corona tatsächlich alle Menschen ganz real und persönlich und schränkt ihren Alltag ein. Und viele Menschen geraten dadurch auch unter Druck, ob wirtschaftlich, sozial oder emotional. Das wird dann auch oft ausgenutzt, zum Beispiel von Verschwörungsideologen oder rechten Kräften.
Auf den Anti-Corona-Demos haben wir Kritiker der Maßnahmen gesehen, denen es offenbar nichts ausmachte, an der Seite von Rechtsradikalen zu laufen. Und das sehen Sie auch im Internet?
Auch im Netz erleben wir eine Vermischung dieser Gruppen und der Narrative. Schon in der Flüchtlingskrise kannten wir den Satz: "Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen." Das wiederholt sich bei Corona. Man darf in diesem Land alles sagen, solange es nicht mit dem Strafrecht in Konflikt tritt. Das Argumentationsmuster tritt im Grunde immer wieder auf. Man darf alles sagen, die Mehrheit der Bevölkerung muss es aber nicht mittragen und oft ist es eben von der Wissenschaft widerlegt.
Sie beobachten aber auch, dass sich das, was früher als unsagbar galt, weil es Grenzen verletzt oder schlicht abseits des gesellschaftlichen Konsens war, sich auch außerhalb des Internets in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeschlichen hat?
Ja, auch das haben wir schon in der sogenannten Flüchtlingskrise gesehen. Und das setzt sich bei Corona fort. Das, was die Wissenschaft uns berichtet, ist eben oft weit entfernt von einer einfachen Lösung. Und stellt damit auch die Politik vor schwierige Aufgaben. Das ist für manche Menschen dann anscheinend zu viel. Und sie reagieren überemotionalisiert.
Wir sehen aktuell eine Erhöhung des Drucks auf Ungeimpfte. Auch das führt zu heftigen Reaktionen. Wie lässt sich diese überhitzte Debatte stoppen?
Dass die Debatte überhitzt, hat auch mit bestimmten Mechanismen des Internets, oder – genauer gesagt – der sozialen Medien zu tun. Es entwickeln sich darin Blasen, weil der Algorithmus dieser Unternehmen nach dem Prinzip funktioniert: Wer sich dafür interessiert oder das angeklickt hat, interessiert sich dann auch dafür. So bekomme ich im Prinzip immer Nachrichten oder Meinungen, die meiner eigenen Wahrnehmung entsprechen. Damit entwickelt sich eine eigene Welt. Und: Emotionen führen immer zu mehr Klicks als Sachlichkeit. Und Hass ist eine sehr starke Emotion.
Sie beraten Menschen, die von Beleidigungen oder sogar Morddrohungen betroffen sind?
Wir sind eine Beratungsstelle für Betroffene von digitaler Gewalt. Dabei geht es zum Beispiel um Morddrohungen per E-Mail, die Veröffentlichung personenbezogener Daten wie Adresse oder Telefonnummer von Menschen, die Meinungen vertreten oder Standpunkte einnehmen, mit denen andere nicht übereinstimmen. Dafür werden häufig persönliche Informationen missbraucht, zum Beispiel über die Kinder oder die Privatadresse. Dann wird digitale Gewalt schnell sehr analog. Es handelt sich dabei nicht nur um Menschen, die sich bewusst öffentlich in Debatten exponieren. Es kann auch den einfachen Bürger betreffen, der zum Beispiel auf Facebook oder Twitter eine Meinung äußert.
Was passiert dann?
Dann sehen wir gut organisierte Gruppierungen – oft aus dem rechten Milieu –, die in Massen auf diese Posts aufspringen und versuchen, die Person mundtot zu machen. Diese digitale Gewalt ist strategisch und hat das Ziel, die Person so einzuschüchtern, dass sie sich nicht mehr äußert. Dafür werden auch explizite Drohungen genutzt.
Sie haben auch unter anderem Renate Künast und Volker Beck unterstützt, die beide Gerichtsurteile gegen Menschen erwirkt haben, die sie im Internet beleidigt und bedroht haben. Was können Sie erreichen – sowohl für Prominente als auch für den Normalbürger?
Erst mal ist einen Fall vor Gericht zu bringen teuer: 5.000 bis 6.000 Euro kann so ein Verfahren kosten. Diese Kosten nehmen wir den Betroffenen ab. Auf diese Weise kann man eine Unterlassungsverpflichtung erwirken. Die Person darf eine bestimmte Formulierung nicht wiederholen, meist verbunden mit der Androhung einer Geldstrafe bei Wiederholung. Das hat natürlich auch einen Abschreckungseffekt – für die Gegenseite, aber auch Außenstehende. Es lässt niemanden kalt – ob prominent oder nicht –, wenn er oder Teile seiner Familie mit Folter oder Tod bedroht wird.
Was raten Sie Menschen, denen das passiert?
Erst mal können sie sich natürlich an uns wenden und sich beraten lassen. Grundsätzlich raten wir allen Betroffenen auch eine Strafanzeige in Erwägung zu ziehen. Präventiv sollten Betroffene zum Beispiel auch überprüfen, welche persönlichen Informationen im Netz über sie zu finden sind.
Wie ermitteln Sie überhaupt die Menschen, die ja oft anonym im Internet posten?
Manchmal gelingt das über Recherchen im Netz. Oft sind wir aber auf die Strafverfolgungsbehörden angewiesen, die natürlich mehr Möglichkeiten haben, um Anhaltspunkten zur Identität von Personen im Netz nachzugehen, zum Beispiel über die IP-Adresse, die einer Internetverbindung zugeordnet werden kann.
Was wäre Ihr Wunsch: Was müsste in der Strafverfolgung im Internet verbessert werden?
Zunächst einmal brauchen die Ermittlungsbehörden bessere Möglichkeiten zur Identifizierung von Tätern. Da die Onlineplattformen ihren Sitz meist im Ausland haben, brauchen wir hier eine gesamteuropäische Lösung, um nicht auf ihre freiwillige Kooperation angewiesen zu sein. Außerdem müssen soziale Netzwerke transparenter werden, damit wir den Umgang mit Hass-Postings besser verstehen können – hier passiert vieles im Geheimen.
Frau Ballon, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Josephine Ballon
- Eigene Recherche