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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neuinfektionen im Fokus Folgt Deutschland den falschen Corona-Kennzahlen?
Die Infektionszahlen in Deutschland steigen – und damit auch die Angst vor neuen harten Einschnitten. Doch die Zahl der Neuinfizierten allein spiegele nicht das aktuelle Risiko der Pandemie, meinen Experten.
Deutschland ist in Alarmbereitschaft: Dass die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus derzeit wieder stark ansteigt, hat die Politik auf den Plan gerufen und zu neuen Maßnahmen bewogen. Um einen erneuten bundesweiten Lockdown auch in den schwierigen Herbst- und Wintermonaten zu vermeiden, soll aber weiterhin nach der sogenannten Hotspot-Strategie auf das regionale Infektionsgeschehen geschaut werden.
"Auf regionale Anstiege der Infektionsraten ist vor Ort sofort mit Beschränkungen zu reagieren", heißt es von der Bundesregierung zum neuesten Beschluss von Ende September. Deshalb sollten die Länder "ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörden" umsetzen, wenn Landkreise oder kreisfreie Städte mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten sieben Tage verzeichnen.
Hendrik Streeck: "Nicht nur auf die Infektionszahlen starren"
Dass diese sogenannte 7-Tages-Inzidenz von 50 ein wichtiger Wert zur Einschätzung der Pandemie-Dynamik ist, steht zwar auch für die meisten Experten außer Frage. Inzwischen wird jedoch immer deutlicher, dass zur Einschätzung des aktuellen Pandemie-Risikos in Deutschland nicht nur dieses Kriterium relevant ist.
"Wenn wir ausschließlich auf die Infektionszahlen starren, sehen wir nur einen Teil der Entwicklung, sagt der Bonner Virologe Hendrik Streeck kürzlich im Interview mit t-online. Schließlich gelte: "Je mehr getestet wird, desto mehr mild verlaufende Fälle werden registriert – und die brauchen uns nicht zu erschrecken."
Tatsächlich ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bislang recht gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Die Anzahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 liegt vergleichsweise niedrig, eine Überlastung des Gesundheitssystems konnte – zumindest bislang – vermieden werden.
Welche Daten könnten noch betrachtet werden?
Um die Dynamik der Pandemie besser einschätzen zu können, sollten diverse weitere Werte herangezogen werden. Darin sind sich viele Experten und Wissenschaftler einig. Welche Faktoren das sein sollen, darüber herrscht aber zum Teil Uneinigkeit.
Der Corona-Forscher Streeck plädiert für eine bundesweite Corona-Ampel, die folgende Werte berücksichtigen sollte:
- die Anzahl der durchgeführten Tests
- der Anteil der schwer Infizierten
- die Zahl der belegten Betten auf den Stationen
- die Anzahl der von Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten
Sterbefälle sollten in der Ampel jedoch nicht verzeichnet sein, meint Streeck: "Im Vordergrund steht meiner Meinung nach die stationäre Belegung in den Kliniken – also nicht nur die Zahl der durch Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten. Denn meist landen Corona-Patienten ja zuerst auf der normalen Station."
Epidemiologe: Nachvollziehbarkeit von Kontakten wichtig
Auch der Epidemiologe Prof. Markus Scholz sieht die Konzentration auf die SARS-CoV-2-Infektionszahlen als einzigen Wert zur Entscheidung bei der Hotspot-Strategie skeptisch. "Wichtig wäre, dass definiert wird, welche Ziele man mit den Corona-Maßnahmen verfolgt", so Scholz im Gespräch mit t-online.
Eine weitere Zielgröße könnte laut dem Forscher von der Uni Leipzig die Nachvollziehbarkeit von Kontakten sein: "Hierzu müsste die Zahl der lokalen Neuinfektionen limitiert werden. Darauf wird nach meinem Eindruck aktuell am meisten geschaut."
Was die Bettenauslastung auf den Intensivstationen zur Risikoeinschätzung betrifft, ist der Epidemiologe allerdings skeptisch: Will man eine Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden, spiele die Zahl der belegten Intensivbetten zwar eine Rolle, so Scholz im Gespräch mit t-online. "Dieser Parameter reagiert aber nur mit wochenlanger Verzögerung auf Maßnahmen." Darum ist er Scholz zufolge "keine geeignete Größe zur Pandemiesteuerung".
Berliner Corona-Ampel: Rot – Gelb – Grün für drei Kriterien
Ein Beispiel, wie in der Praxis verschiedene Werte in ein Warnsystem einfließen können, bietet schon jetzt Berlin. Der Berliner Senat beobachtet bereits seit einiger Zeit die Entwicklung des Coronavirus in der Hauptstadt mit einem Ampelsystem. Hier wird auch die Auslastung der Intensivstationen berücksichtigt. Außerdem spielen folgende Werte mit hinein:
- R-Wert (Reproduktionsfaktor), also die Anzahl der Personen, die im Durchschnitt von einem Corona-Fall angesteckt werden
- 7-Tage-Inzidenz
- Belegung der Intensivstationen
Ob das Berliner Vorbild oder aber ein anderes Konzept bald deutschlandweit Schule macht, bleibt abzuwarten.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Eigene Recherche
- Robert Koch-Institut: Informationen zum Coronavirus SARS-CoV-2
- Interview mit dem Virologen Prof. Hendrik Streeck
- Interview mit dem Epidemiologen Prof. Markus Scholz
- Die Bundesregierung: Bund-Länder-Beschluss zum Coronavirus in Deutschland vom 29. September