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Kinder psychisch kranker Eltern werden vergessen


Seelische Erkrankungen
Kinder psychisch kranker Eltern werden vergessen

Von t-online
15.01.2013Lesedauer: 4 Min.
Kinder psychisch kranker Eltern brauchen Hilfe.Vergrößern des Bildes
Kinder psychisch kranker Eltern brauchen Hilfe. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Seelische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird bereits in naher Zukunft die Depression eine der häufigsten Erkrankungen in den Industrienationen sein. Schon heute geht man davon aus, dass bis zu drei Millionen Kinder in Deutschland mit einem psychisch kranken Elternteil zusammenleben. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob es sich um Depression, Schizophrenie oder eine Persönlichkeitsstörung wie Borderline handelt - die ganze Familie leidet mit.

Unberechenbare Eltern, eine dauerhaft angespannte häusliche Situation, Versteckspiele vor anderen, ein Leben mit steter Traurigkeit, Angst oder psychotischen Anfällen - ein glückliches Zuhause hört sich anders an.

Studien der Universität Marburg haben ergeben, dass Kinder psychisch Kranker ein hohes Risiko haben, selbst seelisch krank zu werden. Etwa 60 Prozent zeigen Auffälligkeiten. Ist ein Elternteil schwer depressiv, so ist die Wahrscheinlichkeit, selbst eine Störung zu entwickeln, sogar viermal höher als normal. Zum einen aus genetischen Gründen, zum anderen aber auch aufgrund der ungünstigen Lebensumstände.

Entwicklungsstörungen und psychische Störungen bei Kindern

Doch nicht nur psychische Störungen, auch Entwicklungsstörungen sind bei betroffenen Kindern viel häufiger zu beobachten. Das kann die gesamte Entwicklung betreffen, vom Säugling bis zum Jugendlichen. Im Baby- und Kleinkindalter sind es vor allem die fehlende Empathie und die mangelnde emotionale Verfügbarkeit. Bei Kindergarten- und Schulkindern schlagen unangepasstes Erziehungsverhalten und soziale Isolation besonders zu Buche. Jugendlichen kämpfen mit der mangelnden Identifikationsmöglichkeit und damit, dass sie häufig in die durch die Krankheit entstehenden Konflikte der Eltern einbezogen werden.

Diese Kinder können ihre Gefühle nicht so steuern wie andere, weisen eine geringere soziale Kompetenz auf, leiden unter Ängsten und werden schnell zum Außenseiter. Verlustängste spielen eine große Rolle, bei älteren Kindern auch die Angst davor, Vater oder Mutter könnten sich etwas antun. Hinzu kommt ein bis zu fünfmal höheres Risiko für Vernachlässigung, Misshandlung und sogar Missbrauch.

Ein Aufwachsen ohne Netz und doppelten Boden

Kinder psychisch kranker Eltern wachsen ohne Netz und doppelten Boden auf, so bezeichnet es die Kinder- und Jugendärztin Elisabeth Horstkotte. Die Sicherheit und die Grenzen, die andere Eltern ihren Kindern bieten und ihnen damit einen festen Rahmen geben, kennen sie nicht. Trotzdem bleibt ein Drittel der betroffenen Kinder unauffällig. Sie haben das Glück, Halt entweder beim gesunden Elternteil oder der Verwandtschaft zu finden und hier die notwendigen psychosozialen Ressourcen vermittelt zu bekommen. So erhalten sie trotz der schwierigen Situation den Schutz und die Einfühlsamkeit, die sie brauchen.

Tabuisierung führt zu Isolation

Die Erkrankung, kombiniert mit dem Anspruch und dem Willen, für die Kinder gut sorgen zu wollen, ist sehr belastend für psychisch Kranke. Ein Hauptgrund dafür ist, dass seelische Erkrankungen auch heute noch häufig tabuisiert werden. "Verleugnung, Verdrängung und soziale Isolation sind die Folgen", so Horstkotte. "Eine verzerrte Wahrnehmung durch die Erkrankung kann Störungen in der Sensitivität und Empathie den Kindern gegenüber verursachen sowie zu mangelhafter Vorhersagbarkeit und Strukturierungsfähigkeit führen. Überforderung in der Elternrolle mit Versagens- und Schuldgefühlen kommen hinzu."

Kinder werden in Versorgerrolle gedrängt

Nicht selten halten Kinder seelisch Kranker sich schuldig für die Verfassung ihrer Eltern und das, was dadurch passiert. Die Kinder, und das betrifft vor allem die mit depressiven Müttern, übernehmen dann deren Rolle, stellen die eigenen Bedürfnisse zurück und fühlen sich verantwortlich - auf Kosten dessen, was sie selbst bräuchten. "Parentifizierung" nennen das die Psychologen. Die häufig durch die Krankheit hervorgerufene Trennung der Eltern verschlimmert die Situation. Der Partner geht - die Kinder müssen bleiben und versuchen, seelisch zu überleben.

Schon leichte Störungen schaden dem Familiensystem

Fachleute sind sich einig, dass das Problem noch häufig unterschätzt wird. Umfragen zeigen, dass der überwiegende Teil der Psychotherapeuten eher "leichtere" Formen wie zum Beispiel Neurosen behandelt und dadurch auch keine Gefahr für die Kinder sieht. Ein geregeltes Familienleben sei gegeben und die Eltern kümmerten sich angemessen um ihre Kinder. Doch Horstkotte gibt zu bedenken: "Dabei wird vielleicht übersehen, dass auch leichtere Formen von Angststörungen oder Depressionen zu Verunsicherung, Ängsten und einem gestörten Familienleben führen können, in dem die Kinder für ihre Entwicklungsaufgaben keine verlässliche und fördernde Umgebung finden."

Vergessene Kinder

In ihrem Artikel "Vergessene Kinder", herausgegeben vom Gesundheitsamt Bremen, bemängelt sie, dass auch die Jugendhilfe erst dann auf die Kinder aufmerksam wird, wenn es bereits akut ist. Wenn die Eltern Hilfe zur Erziehung beantragt haben oder das Kind sich deutlich verhaltensauffällig zeigt. Dazu passt auch das Ergebnis einer Studie der Universität Ulm, das zeigt, dass fast 40 Prozent aller stationär aufgenommenen Patienten gar nicht gefragt werden, ob sie Kinder zu Hause haben und wer sich eigentlich um diese kümmert - sie werden einfach übersehen.

Nicht umsonst wird also die Forderung lauter, dass der Fokus sich auch auf die Angehörigen von psychisch kranken Menschen richten muss, speziell auf die Kinder. Dass hier ein früheres Eingreifen und bundesweite Standards angebracht wären. Aber auch eine gezielte Schulung von Mitarbeitern in Kindergärten und Schulen und ein besseres Zusammenarbeiten an Schnittstellen.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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