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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wegweisendes Verfahren Auf diesen Punkt kommt es beim Urteil zur Rentensteuer an
Schlägt der Fiskus bei den Renten verbotenerweise doppelt zu, sodass Hunderttausende Rentner in Deutschland zu hohe Steuern bezahlen? An diesem Streitpunkt könnte es hängen.
Die Corona-Pandemie macht auch vor Deutschlands höchstem Steuergericht nicht Halt. "Wir müssen hier unterbrechen und lüften", sagt Jutta Förster mit Blick auf ein CO2-Messgerät, das neben ihr auf dem Richterpult im Bundesfinanzhof (BFH) steht. Kurze Pause, Fenster auf, dann geht es weiter.
Nicht nur die Pausen verhindern, dass die Luft zum Schneiden ist. Das, worüber Förster verhandelt, wirkt für Außenstehende auf den ersten Blick dröge, fast langweilig, jedenfalls nicht besonders spannend. Doch der Schein trügt:
Denn im Gustav-Jahn-Saal des Münchner Fleischerschlösschen, das den BFH beherbergt, geht es an diesem Mittwoch um eine Frage der Gerechtigkeit. Darum, ob der Fiskus verfassungswidrig Hunderttausende Senioren zur Kasse bittet, die gleich zweimal Steuern auf ihre Renten zahlen müssen.
Deutschlands höchstes Steuergericht
Der Bundesfinanzhof (BFH) mit Sitz in München ist neben dem Bundesgerichtshof, dem Bundessozialgericht, dem Bundesarbeitsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht einer der fünf obersten Gerichtshöfe der Bundesrepublik. Der BFH kümmert sich um alle Fragen des Steuerrechts und um Zollangelegenheiten. Ihm übergeordnet ist lediglich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Geklagt hatten mit Unterstützung des Bundes der Steuerzahler ein ehemaliger Zahnarzt aus Hessen, Gert Zimmermann, und ein früherer Steuerberater aus Baden-Württemberg, Horst W. Bangert. Beide Klagen laufen getrennt voneinander, wollen aber ähnliches: die Doppelbesteuerung kippen.
- Wichtiges Verfahren: Dieser Mann kämpft gegen die Rentenbesteuerung
Doppelbesteuerung ist "die rote Ampel"
Auch Richterin Förster ist dieser Punkt sehr wichtig. "Es darf in keinem einzigen Fall zu einer doppelten Besteuerung von Renten kommen", sagt sie. Das sei "die rote Ampel" für das Steuergericht. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Wer das verstehen will, muss einen Blick in die Vergangenheit werfen: Seit 2005 greift die nachgelagerte Besteuerung der Rentenzahlungen. Die Umstellung der Rentenbesteuerung läuft seit 2005, zuvor verlangte der Staat "vorgelagert" Steuern auf die Rentenbeiträge der Arbeitnehmer.
Ab 2040 sollen dann die ausgezahlten Renten vollständig "nachgelagert" besteuert werden. Die Beiträge im Arbeitsleben sind ab diesem Zeitpunkt gänzlich steuerfrei. In der 35 Jahre langen Übergangsphase sinkt die Steuerbelastung der Beiträge. Gleichzeitig steigt der steuerpflichtige Anteil der ausgezahlten Renten, während der Rentenfreibetrag, der zum steuerfreien Teil der Rente zählt, sinkt.
- Meine Rente: Ab wann muss ich als Rentner Steuern zahlen?
In der Übergangsregelung sehen viele Rentner eine Doppelbesteuerung. Ihre Begründung: Das Finanzamt belaste sie über Gebühr, weil die steuerbefreiten Renten niedriger seien als die eingezahlten versteuerten Beiträge.
Das ist der Knackpunkt des Verfahrens
Letzter Punkt könnte in den Verfahren am Bundesfinanzhof zum Casus Knacksus werden, genauer gesagt: die Berechnung des steuerfreien Rentenbetrags.
Derzeit beziehen die Finanzämter in die Berechnung des steuerfreien Teils der Rente nämlich nicht nur den sogenannten Rentenfreibetrag mit ein, sondern auch den Grundfreibetrag, der jedem Steuerzahler, egal wie alt, zusteht – und eben nicht nur Senioren. Kritiker monieren, dass sich das Ministerium durch den Grundfreibetrag den steuerfreien Teil der Rente "schönrechnet", sodass es im Grunde niemals zur Doppelbesteuerung kommen könnte.
- Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Der Grundfreibetrag beträgt für das Jahr 2020 9.408 Euro und er steigt jedes Jahr etwas. Multipliziert man 9.408 Euro mit den Jahren, die ein Rentner statistisch gesehen nach der Rente lebt, rechnen wir mit 18 Jahren, erhält man immerhin die Summe von knapp 170.000 Euro.
Durch den Grundfreibetrag liegt der steuerfreie Teil der Rente also deutlich höher als ohne. Die Folge: Eine Doppelbesteuerung ist nahezu ausgeschlossen.
BFH-Richter: Es kann zur Doppelbesteuerung kommen
Diese "Schönfärberei" hatte auch Egmont Kulosa beanstandet, der Stellvertreter von Förster am BFH – und Anhänger eines sehr engen Begriffs der steuerfreien Rente. In einem juristischen Fachpapier führte er bereits 2017 aus:
"Es bedarf keiner komplizierten mathematischen Übungen, um bei Angehörigen der heute mittleren Generation, die um 2040 in den Rentenbezug eintreten werden, eine Zweifachbesteuerung nachzuweisen." Das hält der Jurist für "evident" verfassungswidrig.
Wenig überraschend ist es am Mittwoch, dass Kulosa bei der Verhandlung besonders auf den Grundfreibetrag pocht und Rolf Möhlenbrock, den Leiter der Steuerabteilung im BMF, löchert.
Auf die Frage, warum eine Entlastung, die ohnehin jedem Steuerpflichtigen zusteht, noch mal in den steuerbefreiten Rententeil miteinbezogen werde, sagt Olaf Scholz' Steuerexperte: "Die Antwort ist ganz einfach und kurz: Weil sie entlastet."
Finanzhof könnte Rentenbesteuerung in jetziger Form kippen
Das seien "sehr eloquente Ausführungen", meint Kulosa. Richterin Förster sagt in Richtung von Kläger Bangert: "Da haben Sie uns ganz schön ins Grübeln gebracht." Weiter lassen sich die Richter nicht in die Karten schauen.
Beobachter der Verhandlung sind sich dennoch einig: Der BFH könnte hier die Berechnungsweise des Finanzministeriums kassieren. "Ich habe den Eindruck, dass die Richter sich an diesem Punkt einig sind", sagt etwa Klaus Grieshaber, Vizepräsident des Steuerzahlerbundes Bayern. "In jedem Fall werden die Urteile sehr spannend."
Am 31. Mai soll es Entscheidungen in den Verfahren geben. Und hiervon hängt einiges ab: So sind zurzeit 142.000 Verfahren bei Deutschlands Finanzämtern anhängig.
Finanzministerium: "Sehr fruchtbringendes" Gespräch
Doch selbst wenn der BFH nicht feststellt, dass es zu einer Doppelbesteuerung kommt, könnte das Verfahren Folgen haben – auch wenn es sich um einen Einzelfall handelt. "Dann ist wenigstens der Rechenweg geklärt", so Grieshaber.
Besonders für künftige Senioren spielt das eine Rolle. Fraglich ist nämlich, ob Scholz ignorieren kann, wenn das oberste Steuergericht die Rentenbesteuerungsformel anprangert.
Scholz' Vertreter jedenfalls bedankt sich nach dem Verfahren brav für das "ausführliche Rechtsgespräch", das "sehr fruchtbringend" gewesen sei. Er glaube zwar an die Formel, so Möhlenbrock. Doch die Entscheidung liege beim BFH – und falls Fehler gemacht worden seien, solle das Gericht dies ruhig erläutern.
- Eigene Recherche und Beobachtungen vor Ort
- Gespräch mit Klaus Grieshaber
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters